Als Isabeau aufwacht, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie sich in einer Holzkiste befindet. Sie hat keine Ahnung, wie sie in die Kiste gekommen ist, nur eins weiß sie: Es ist Winter, es schneit und es ist kalt. So kalt, dass sie erfrieren wird, wenn es ihr nicht gelingt, sich aus der Kiste zu befreien. Aber zum Glück gibt es ja Draki...
JANUAR
WINTERTRÄUME: Romantische Wintergeschichten
Bella in der Box
Als Isabeau aufwachte, war es dunkel. Nicht richtig dunkel, also nicht stockdunkel und pechschwarz, sondern ungefähr so dunkel wie in einem Zimmer, in dem jemand am helllichten Tag die Rollläden heruntergelassen hatte, aber nicht vollständig, sondern nur so weit, dass das Licht durch die Ritzen drang. Das war seltsam, denn Isabeau ließ nie die Rollläden runter, ja, sie hatte überhaupt keine Rollläden, denn sie hasste es, im Dunkeln zu schlafen. Im Gegenteil, sie schlief immer mit offenem Fenster, sodass sie vom Bett aus den Sternenhimmel sehen konnte. Hier und jetzt war allerdings weit und breit nichts vom Sternenhimmel zu sehen. Alles, was sie erkennen konnte, war ein schwacher Lichtschimmer, der durch irgendwelche Ritzen fiel. Ritzen? Wo um alles in der Welt war sie? Und wie war sie hierhergekommen, wo auch immer hier sein mochte? Isabeau blinzelte und versuche, sich zu orientieren. Was nicht einfach war, da ihr Kopf ungeheuer schmerzte, gerade so, als ob ihr jemand auf den Kopf geschlagen hätte oder sie gestürzt und auf den Kopf gefallen wäre. War sie das? Gestürzt? Und auf den Kopf gefallen?
Vorsichtig bewegte Isabeau sich. Isabeau... was für ein bescheuerter Name! Als ob sie eine bescheuerte Französin wäre, was sie nicht war und auch nicht sein wollte... Sie hatte versucht, ihren unsäglichen Namen irgendwie abzuwenden und die Menschen in ihrem Umfeld dazu zu bewegen, sie Isa oder Izzy oder wenigstens Bella zu nennen, aber vergebens. Der pseudofranzösische Name klebte an ihr wie Pech und Schwefel, was an sich schon eine Ungerechtigkeit des Universums war, da ihre Eltern überhaupt und absolut gar nichts mit Frankreich zu tun hatten. Sie hatte keine Ahnung, welcher Teufel sie bei der Namenswahl für ihre einzige Tochter und ihr einziges Kind geritten hatte, aber egal ob nachvollziehbar oder nicht, so hieß sie jetzt eben und musste irgendwie damit leben.
Isabeau blinzelte verwirrt.
Sie war ganz eindeutig auf den Kopf gefallen, wenn sie sich in der seltsamen Situation, in der sie sich befand, Gedanken über ihren Namen machte. Sie blinzelte noch ein paar Mal und versuchte, sich zu konzentrieren, was aber nur dazu führte, dass sich ihre Kopfschmerzen verschlimmerten. Also schloss sie die Augen wieder und atmete tief durch.
Seltsam, dass sie keine Angst hatte. Hatte ihr vielleicht jemand Drogen verabreicht, die nicht nur sie sondern auch ihre Ängste betäubt hatten? Denn obwohl Isabeau generell keine ängstliche Person war, sondern mit unverwüstlichem Optimismus durch das Leben ging und von allem und jedem immer nur das Beste annahm, war das hier doch eine sehr außergewöhnliche Situation.
Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder aufschlug, war es deutlich heller und ihre Kopfschmerzen waren zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. Stattdessen hatte sie ein taubes Gefühl und einen ekligen Geschmack im Mund, als ob sie einen Hundenapf ausgeleckt hätte. Dadurch, dass es jetzt heller war, konnte sie erkennen, dass sie sich in einer Kiste befand. Ihr Gehirn brauchte einige Augenblicke, um diese Information zu verarbeiten, aber dann traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz.
Wie um alles in der Welt war sie in diese Kiste gekommen?
Vorsichtig setzte sie sich auf und musterte ihre Umgebung. Sie befand sich tatsächlich in einer Kiste, einer sehr großen und stabilen Lattenkiste mit schmalen Ritzen. Es musste sich um eine Transportkiste für große Maschinen oder Geräte handeln, denn sie war groß genug, dass Isabeau aufrecht darin stehen und auf dem Boden liegen konnte. Sie trat an die Kistenwand und versuchte, durch die Ritzen zu erkennen, wo sie sich befand. Viel konnte sie nicht sehen, auf drei Seiten war es ziemlich dunkel, nur auf einer Seite war es hell. Es musste ein Schuppen oder eine Art Unterstand sein, oder vielleicht eine Höhle. Mitten im Wald, denn auf der Seite, auf der das Tageslicht einfiel, sah sie Bäume und dichtes Laub.
Na super.
Isabeau seufzte und kratzte sich am Kopf. Das hätte sie besser bleiben lassen sollen, denn sie zuckte vor Schmerz zusammen und als sie die Hand wegzog, war sie blutverschmiert. Also doch ein Schlag auf den Kopf. Vorsichtig tastete sie ihren Kopf ab. Ganz eindeutig eine Platzwunde am Hinterkopf von einem Schlag oder einem Sturz. Hatte jemand versucht, ihr den Schädel einzuschlagen, oder war es ein Unfall gewesen?
Sie hielt den Atem an und lauschte. Befand sich die Person, die sie in diese Kiste gesteckt hatte, in der Nähe? Vermutlich nicht, denn es herrschte Stille, unterbrochen nur hin und wieder durch die typischen Waldgeräusche, wie der Ruf eines Vogels oder das Knacken von Ästen. Mit Waldgeräuschen kannte Isabeau sich aus, sie lebte jetzt schon eine ganze Weile mitten in den Bergen am Rande einer Stadt, die so klein war, dass sie die Bezeichnung Stadt eigentlich nicht verdient hatte. Normalerweise liebte sie den Wald und seine Geräusche, aber jetzt gerade wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie fahrende Autos oder andere Anzeichen der Zivilisation hören könnte.
Sie seufzte erneut und machte sich dann daran, die Kiste sorgfältig abzutasten und ihre Stabilität zu prüfen. Das Ergebnis der Überprüfung war niederschmetternd, so stabil, wie die Kiste war, hätte sie genauso gut aus Metall sein können.
Ein wenig ratlos ließ sich Isabeau zu Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken an die Kistenwand. Sie sollte jetzt langsam wirklich Angst bekommen, war aber ehr überrascht und verwirrt. Was hatte es für einen Sinn, sie in eine Kiste mitten im Wald zu sperren?
Nachdenklich betrachtete sie ihre Kleidung und versuchte sich daran zu erinnern, was passiert war. Sie trug ihr ganz normales Outfit, mit dem sie mittlerweile seit zwei Jahren durch das Leben ging, seit sie in der Hütte im Wald am Rande der Mini-Kleinstadt lebte, die in Wirklichkeit nichts anderes als ein etwas zu groß geratenes Dorf war: Jeans, T-Shirt und ein Hoody. Darüber ihre Winterjacke mit dicker Daunenfütterung und Boots, die Waldarbeitern alle Ehre gemacht hätten. Jacke und Boots. Das bedeutete, dass sie draußen gewesen war, als sie... Ja was eigentlich? Entführt? Gekidnappt? Niedergeschlagen? Verschleppt worden war? Womit sie wieder am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen angelangt war. Was hatte das alles für einen Sinn? Sie kannte die Leute aus dem Dorf nur flüchtig, und niemand wusste, wer sie war. Na ja, flüchtig war vielleicht nicht das richtige Wort, in einem Dorf mit etwas mehr als 500 Einwohnern kannte zwangsläufig jeder jeden und selbst Isabeau war davor nicht gefeit, auch wenn sie sich bemühte, die sozialen Kontakte auf das strikt Notwendige zu beschränken.
Denn deshalb war sie ja schließlich hierhergekommen. An das Ende der Welt. In die große Einsamkeit, mitten im Nirgendwo. Weil sie im Grunde nichts mehr mit den Menschen zu tun haben wollte. Mit den Menschen und ihren bescheuerten Ideen und ihrem absurden Verhalten. Wie bescheuert und absurd die Menschen waren, zeigte die Tatsache, dass sie an einem unbekannten Ort mitten im Wald und mitten im Winter von einem unbekannten Menschen in eine Transportkiste gesperrt worden war. Also echt jetzt!
Isabeau hatte bereits vor einer ganzen Weile das Vertrauen in die Menschheit im Allgemeinen und in die Männer im Speziellen verloren. Weshalb sie sich vor der Welt und dem Herzschmerz in ihre Hütte geflüchtet hatte, die, wenn sie ehrlich war, eigentlich ein wundervolles, aus ganzen Baumstämmen erbautes Holzhaus und viel zu groß für sie war. Sie hatte die Einsamkeit gesucht, verletzt und enttäuscht wie sie war, aber so ganz ein Einsiedlerleben zu führen, hatte sie sich nicht getraut, irgendwie brauchte sie den Gedanken, dass sie doch noch bis zu einem gewissen Grad den Kontakt mit der Zivilisation aufrecht erhielt. Weshalb das Dorf perfekt für sie war.
Und nicht nur deshalb.
Also nicht nur, weil hier nur wenige Menschen wohnten und alles für Isabeau absolut überschaubar war.
Sondern auch, weil es in einer 500 Seelen Gemeinschaft nicht viele Männer im heiratsfähigen Alter gab und sich die Versuchungen damit in einem absolut überschaubaren Rahmen hielten.
Isabeau musste unwillkürlich grinsen, als sie an die Happy Hour am Samstagabend denken musste, die in dem kleinen Dorf absoluten Kultstatus hatte und mit Sicherheit wichtiger war als die Sonntagsmesse. Alle kamen am Samstagabend zur Happy Hour in das kleine Pub am Ort, das gleichzeitig Coffeeshop und Gemischtwarenladen sowie Poststelle war. Auch sie ging jeden Samstag in das Pub, da sie der Ansicht war, dass ein bisschen soziale Kontakte ihr gut taten und sie außerdem die Befürchtung hatte, dass ihre Stimmbänder absterben würden, wenn sie sie nicht wenigstens einmal pro Woche benutzte. Um sinnentleerte Gespräche mit Menschen zu führen, die sie gar nicht kennenlernen wollte und die sie nicht verstand.
Das Angebot, wenn man es so nennen konnte, war sehr beschränkt, um nicht zu sagen armselig. Da gab es Peter und Paul und natürlich Christian, der allerdings mehr als grenzwertig war, da er bereits die Vierzig überschritten hatte, was an sich ja noch kein Problem darstellte, der aber mit seinen fehlenden Zähnen und den zotteligen, ungepflegten Haaren aussah, als ob er weit in den Sechzigern wäre. Und Peter sah fantastisch aus, war aber hummeldumm. So dumm, dass Bella schon fast so etwas wie Zuneigung für ihn empfang, aber ehrlich gesagt konnte und wollte sie sich nicht vorstellen, das Leben mit einem Mann zu verbringen, der absolut überhaupt nichts von dem verstand, was sie sagte. Obwohl... Es war ja jetzt nicht so, als ob andere Männer, die vielleicht mit etwas mehr Intelligenz als Peter gesegnet waren, irgendetwas von dem verstanden, was Bella sagte, dachte oder fühlte... Na ja, und Paul war zwar der volle Frauenversteher, aber er war klein und mager und reichte Bella nur bis zur Schulter, was für Bella ein echtes Killerkriterium war.
Klar, sie hatte mit den Männern abgeschlossen.
Endgültig.
Ein für alle Mal.
Aber deshalb war sie trotzdem der Ansicht, dass ein Mann nur dann attraktiv war, wenn sie zu ihm aufschauen konnte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und da sie selbst fast eins achtzig groß war, bedeutete das, dass er mindestens eins neunzig groß sein musste, am besten noch größer.
Bella lehnte den Kopf an die Kistenwand und seufzte wieder.
Wem wollte sie da eigentlich etwas vormachen?
Sich selbst?
Den anderen?
"Bella, jetzt konzentriere dich bitte auf deine Situation, die alles andere als rosig ist. Über die Männer kannst du auch später noch nachdenken, wenn du nicht mehr in einer Kiste steckst!" ermahnte sie sich selbst und starrte dann blicklos an die Holzdecke der Holzkiste.
In Gedanken machte sie sich eine Liste aller Fakten, die sie kannte und an die sie sich erinnerte.
Punkt eins: Sie musste irgendwo draußen gewesen sein, als der Mann sie niedergeschlagen hatte. Jedenfalls ging sie davon aus, dass es ein Mann gewesen war, denn da sie relativ groß war, war ein gewisses Maß an Kraft erforderlich, um sie zu verschleppen und in eine Kiste zu stecken. Weshalb es auch wahrscheinlich war, dass der unbekannte Vollpfosten sie niedergeschlagen hatte, denn diese Transportkiste mitten im Wald war neu, sodass sie davon ausgehen konnte, dass ihr Entführer diese Entführung bis zu einem gewissen Grad geplant haben musste. Er hatte sie wohl kaum irgendwo bewusstlos auf dem Boden gefunden, nach einem Sturz oder nachdem ihr der Himmel auf den Kopf gefallen war oder was auch immer, um sie dann nicht etwa ins Krankenhaus zu bringen, sondern mit ihr in die Wildnis zu fahren, wo er - oh Wunder! - zufällig auf eine neue Holzkiste stieß und sich dachte: he, das ist mal ein feines Plätzchen, da verstaue ich Bella jetzt, während ich Hilfe hole! Bei der Vorstellung musste Bella lachen, was sie sofort bereute, da ihr Kopf wieder anfing, höllisch zu schmerzen.
Also, um die Liste weiterzuführen, Punkt 2: Es war eine geplante Tat, die der unbekannte Vollpfosten aus einem unbekannten Grund begangen hatte, und auch wenn seine Vorgehensweise eine gewisse Planung erkennen ließ, war sie dennoch stümperhaft. Sie mit einem Schlag auf den Hinterkopf auszuschalten, war dumm, zumindest dann, wenn er sie nicht töten wollte, denn Schläge auf den Hinterkopf waren meistens tödlich und Bella konnte sich nicht vorstellen, dass er diese schöne neue Holzkiste hier im Wald zusammengeschraubt hatte, um eine Leiche darin zu verstauen. Da wäre es ja wirklich deutlich einfacher gewesen, irgendwo ein Loch zu buddeln oder sie einfach in eine der vielen Felsspalte zu werfen, die es hier in den Bergen praktisch überall gab. Da hätten sie dann die Schakale oder Wölfe oder Bären oder Insekten gefressen und das wäre es dann gewesen.
Damit kam sie zu Punkt drei: Ein stümperhafter Amateur ohne direkte Tötungsabsicht. Was nicht hieß, dass er sie nicht demnächst oder vielleicht auch etwas später töten würde.
Na ja, so hatte sie sich das Ende ihre Lebens auch nicht vorgestellt, aber immerhin konnte sie nicht sagen, dass es banal wäre. In der Rangliste der absurdesten Todesursachen würde ihr Tod in einer Holzkiste im Wald sicher auf einem der oberen Plätze landen. Womit sie bei Punkt vier wäre: Wer machte so etwas Bescheuertes und warum?
Leider wusste sie keine Antwort auf diese Frage.
Sie hatte keine Freunde und keine Feinde.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals irgendjemanden beleidigt zu haben.
Sie besaß nichts von Interesse.
Sie hatte kaum soziale Kontakte.
Sie lebte ein einsames und zurückgezogenes Leben.
"Punkt vier", sagte sie mit lauter Stimme, "es muss sich um eine Verwechslung oder einen wahnsinnigen Serienmörder handeln!"
Laut ausgesprochen war dieser Satz ziemlich beunruhigend. Aber ein Serienmörder hätte sie sicherlich in einen Sarg gesperrt, das wäre viel gruseliger und viel besser geeignet, ihr Angst zu machen. Und natürlich hätte ein Serienmörder sie gefesselt. Was sie aber nicht war.
Sie sprang auf und lief unruhig in der Holzkiste auf und ab, wovon ihr aber schon nach kurzem schwindelig wurde, weil es fast so war, als ob sie sich im Kreis drehen würde.
Und was jetzt?
Ratlos starrte sie die Holzwände an. Dann durchsuchte sie noch einmal gründlich alle ihre Taschen, aber ihr Handy war natürlich weg. Ihr Entführer war also kein kompletter Vollpfosten. Das einzige, was sie tun konnte, war darauf zu warten, dass er wieder hier auftauchte und ihr dann hoffentlich mitteilte, was er mit dieser hirnrissigen Aktion bezweckte.
Bella spähte immer wieder durch die Ritzen in der Kiste. Als sie irgendwann sah, dass es angefangen hatte zu schneien, wurde ihr doch mulmig zumute. Ein Schneeeinbruch hier in den Bergen war nichts, womit man spaßte, und bedeutete in der Regel, dass sich praktisch niemand mehr von Punkt A nach Punkt B bewegte. Was wiederum bedeutete, dass ihr Entführer es nicht schaffen würde, zur Kiste zurückzukehren. Und das bedeutete wiederum, dass sie ziemlich zeitnah erfrieren würde.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich leicht, aber sie zwang sich zur Ruhe. Weder Angst noch Verzweiflung noch Panik würden sie aus der Kiste befreien. Plötzlich hörte sie das Bellen eines Hundes. Der Hund musste ein ganzes Stück entfernt sein, aber immerhin irgendwo in der Nähe. Das war vermutlich ihre einzige Chance, auf sich aufmerksam zu machen, also steckte sie ihre Finger in den Mund und pfiff, was das Zeug hielt. Zum Glück konnte sie durch die Finger pfeifen, eine Fähigkeit, die in ihrem bisherigen Leben eigentlich nicht von Bedeutung gewesen war, da sie noch nie einen Hund besessen hatte, die sich aber jetzt als sehr nützlich erwies. Tatsächlich konnte sie hören, dass der Hund auf ihre schrillen Pfiffe mit Bellen antwortete und langsam wurde sein Bellen immer lauter, bis schließlich ein großer Hund in die Höhle oder den Schuppen gestürmt kam und wild bellend an der Holzkiste hochsprang.
"Ja du bist aber ein braves Hundchen!" lobte Bella das riesige Ungetüm und konnte gar nicht fassen, dass der Hund tatsächlich ihren Pfiffen gefolgt und zu ihr gekommen war.
"Du braves, braves Hundilein, bist du alleine gekommen oder hast du dein Herrchen oder Frauchen mitgebracht?" fragte sie den Hund und versuchte, durch die Ritzen der Transportkiste etwas zu erkennen. Ihre Sicht wurde plötzlich von einem großen Umriss verdunkelt.
"Sein Herrchen", grollte eine tiefe, knurrige Stimme und Bella machte vor Schreck einen Satz zurück. War das ihr Entführer?
"Was zum Teufel machst du in der Kiste?" knurrte das schlechtgelaunte Herrchen des Hundeungetüms.
"Keine Ahnung. Irgendjemand hat mich niedergeschlagen und in dieser Kiste verstaut. Warst du das?" fragte Bella genauso missmutig zurück. Unglaublich, da fand der Typ sie mitten im Wald und stellte erst einmal bescheuerte Fragen.
"Ich? Dich in eine Kiste stecken? Warum sollte ich so etwas tun?"
"Woher soll ich das wissen? Der Vollpfosten, der diese fantastische Idee hatte, hat mir nicht erklärt, was er damit beabsichtigt."
"Hm", brummte der Mann und sie konnte hören, wie er die Kiste abtastete.
"Ziemlich stabil das Ding."
"Was soll das heißen? Dass du mich in der Kiste erfrieren lässt?" fauchte Bella, die am Ende ihrer Geduld angelangt war.
"Nein", knurrte der Mann zurück, "das heißt nur, dass du dich auf diese Seite der Kiste stellen solltest..." er klopfte mit der Hand gegen eine Kistenwand, "weil ich die Kiste eintreten muss."
Eintreten? Niemand konnte so eine stabile Kiste einfach eintreten. Ihre Versuche hatten jedenfalls nicht die geringste Wirkung gezeigt.
"Achtung" sagte der Mann und dann gab es ein Krachen und zwei der Latten brachen unter der Wucht eines Trittes, der vermutlich einen Bär zu Boden gestreckt hätte.
"Heilige Scheiße", flüsterte Bella und lugte durch die Öffnung in der Kiste. Alles, was sie sehen konnte, war der riesige Hund, der genauso neugierig in die Kiste schaute wie sie aus der Kiste. Bis der Mann den Hund bestimmt aber freundlich mit dem Bein zur Seite schob.
"Heilige Scheiße", flüsterte Bella noch einmal, als der Mann sich zu ihr herunterbeugte und durch das Loch in die Kiste spähte.
"Was? Gefällt dir nicht, was du siehst?" fragte er unwirsch und packte dann die Latten mit seinen Händen, die in dicken Handschuhen steckten, um das Loch zu erweitern, damit es groß genug für Bella wurde.
"Was ist das denn für eine dämliche Frage? Ist das hier ein Schönheitswettbewerb oder was?"
Bella verspürte den Drang, mit dem Kopf gegen die Holzwand zu schlagen, sah dann aber wegen ihrer Kopfverletzung davon ab.
"Na, ein bisschen Freude könntest du schon zeigen, angesichts dieser heldenhaften Rettung", informierte sie der Mann und klang leicht beleidigt. Was ihn aber nicht davon abhielt, ganze Stücke aus der Kistenwand herauszubrechen, wobei ihn sein Hund schwanzwedelnd beobachtete, der das ganze anscheinend für ein Spiel hielt. Für ein sehr lustiges Spiel.
Meine Güte, der Typ war ein Hulk. Oder vielleicht ehr ein Thor. Er war bestimmt über zwei Meter groß und gefühlt genauso breit wie hoch.
"Woher soll ich denn wissen, dass du mich gerade rettest? Es ist viel wahrscheinlicher, dass du doch der Vollpfosten bist, der mich in die Kiste gesteckt hat."
Der Mann trat einen Schritt zurück, musterte sein Werk und nickte dann zufrieden.
"Das Loch ist groß genug. Komm raus. Und wenn ich der Vollpfosten wäre, hätte ich meinen Akkuschrauber mitgebracht, um die Kiste aufzuschrauben."
Sie hatte sowieso nur die Wahl zwischen einsam im Schnee zu erfrieren, was ihren sicheren Tod bedeutete, oder mit Hulk mitzugehen, was nicht für ein Happy End garantierte, aber immerhin eine gewisse Überlebenschance bot.
"Na dann", sagte sie deshalb munter, während sie wenig elegant aus der Kiste krabbelte, "und was jetzt?"
Der Hulk packte sie völlig überraschend am Arm und zog sie auf die Beine. Wow, der Typ war ja wirklich unglaublich stark.
"Bella", sagte sie zusammenhanglos, während sie auf ihren Retter starrte, der aussah wie ein nordischer Gott. Gab es solche Menschen überhaupt im echten Leben?
"Was?" knurrte er und schien nicht zu bemerken, dass er sie immer noch am Arm festhielt.
"Nichts", entgegnete Bella schlecht gelaunt, "ich habe mich nur gerade gefragt, was du bist."
Er sah sie an, als ob sie schwachsinnig wäre, und damit hatte er nicht ganz Unrecht, denn das war wirklich das Schwachsinnigste, was Bella seit langer Zeit gesagt hatte. Vielleicht war es der Adrenalinrausch, der unweigerlich auf Todesangst folgte, oder vielleicht war das einfach nur sie selbst, die immer genau das sagte, was sonst niemand aussprechen würde.
"Was soll das heißen?" fuhr sie der unglaubliche Mann an, der wie ein Berg, nein wie ein ganzes Felsmassiv vor ihr aufragte und eindeutig verärgert an ihrem Arm zog.
"Na, es muss ja einen Grund für dein Aussehen geben", informierte Bella ihn und zauberte ein freundliches und verständnisvolles Lächeln auf ihr Gesicht. Das fühlte sich komisch an und sie konnte sich in etwa vorstellen, wie es auf Hulk wirken musste: vermutlich genauso aufgesetzt und falsch wie es war.
"Stimmt etwas nicht mit meinem Aussehen?" fragte Hulk, ohne sich die Mühe zu machen, seine wachsende Verärgerung zu verbergen. Er machte einen Schritt auf sie zu und wirkte jetzt deutlich bedrohlicher als die Holzkiste, die Bella im Vergleich zu ihm wie eine Wellness-Oase erschien.
"Nein, nix, alles easy, ich frage mich nur..."
Bella musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Eine interessante und einzigartige Erfahrung in ihrem Leben als sehr großgewachsene Frau und vielleicht auch eine Premiere. Hatte sie schon jemals so zu einem Mann aufgeschaut? Vielleicht, aber bestimmt nicht zu einem solchen Berg von einem Mann, der nicht nur sehr groß, sondern auch extrem muskulös war.
"Nein, alles prima... ich frage mich nur..." wiederholte sie, während sie spürte, wie sich ihr Herzschlag wieder beschleunigte. Sie hielt erneut inne und konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden.
"Was?"
"Bist du ein Halbgott?"
Er starrte sie ungläubig an.
"Ein Halbgott?"
"Na ja, du weißt schon, das ungewollte Ergebnis eines Techtelmechtels zwischen einem Gott wie Thor oder Wotan oder whatever und einer Erdenbürgerin."
Sie konnte sehen, dass er langsam die Fassung verlor, aber jetzt, wo sie angefangen hatte, diese Gedanken zu spinnen, konnte sie einfach nicht aufhören.
"Oder hast du vielleicht in einer Chemiefabrik gearbeitet und es gab einen kleinen Chemieunfall, bei dem seltsame und gefährliche Chemikalien freigesetzt wurden?"
"Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, Frau, aber wir sollten uns langsam auf den Weg machen."
Er starrte sie mit einer Mischung aus Faszination und Ungeduld an.
"Oder bist du vielleicht das Ergebnis von geheimen Genexperimenten der Regierung, die versucht hat, den Supermenschen zu erschaffen?"
Das brachte ihn zum Lachen und wenn er vorher schon fantastisch ausgesehen hatte, dann sah er jetzt einfach unglaublich aus. Bella spürte, wie ihre Knie nachgaben und sie zu Boden sank. Er hatte ein kantiges Kinn, einen wundervollen Mund und unglaublich blauen Augen, die vielleicht auch grau waren oder eventuell grün, wer konnte das schon wissen?
Hulk packte sie mit festem Griff an den Schultern und verhinderte so, dass sie zu Boden ging.
"Bella!"
Er schüttelte sie leicht und sah ihr in die Augen.
"So heißt du doch, oder? Bella?"
"Ja..." antwortete Bella und fühlte sich auf einmal schwach und hilflos.
Ihr Retter zögerte kurz und räusperte sich dann.
"Bella wie diese verpeilte Möchtegern-Vampirin aus der Schmonzette?"
Sie spürte, wie sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete und dann begann sie zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Schließlich bekam sie einen Schluckauf und keuchte, noch immer von den Nachwehen der Lachkrämpfe geschüttelt:
"Du kennst Edward und Bella?"
"Willst du mich jetzt mobben, weil ich ein Mann bin und mir gerne romantische Filme ansehe?"
Er hatte wieder seine knurrige Miene aufgesetzt, aber Bella konnte sehen, dass seine Mundwinkel leicht zuckten.
"Soll ich dich Edward nennen? Oder lieber Hulk?" fragte sie ihn und konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.
Er runzelte die Stirn.
"Warum solltest du mich Hulk nennen?"
"Weil du groß bist?
"Ich bin doch nicht groß."
"Also, wenn du nicht groß bist, dann bin ich klein."
"Ja."
"Ja was?"
"Na, du bist klein. Du reichst mir nicht mal bis zur Schulter."
Langsam gingen Bella die Argumente aus und sie starrte ihn ratlos an. Er starrte missmutig zurück, bis er plötzlich zu grinsen anfing.
"Ich mag dich, Bella", sagte er.
"Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder vielleicht besser fürchten soll."
Er lachte.
"Ich mag dich wirklich, Bella. Und jetzt müssen wir los, es wird bald dunkel und wir haben einen langen Weg vor uns. Ich hoffe, du bist gut zu Fuß."
Sie verließen die Höhle und gingen eine ganze Weile schweigend durch den Wald, während die Schneeflocken leise vom Himmel fielen und nach und nach alles unter einer dünnen weißen Decke begruben, die langsam aber stetig dicker wurde. Schon vorher hatte Bella keinen Weg erkennen können und jetzt, wo es überall weiß war, hatte sie keine Ahnung, in welche Richtung sie gingen. Aber der Mann schien zu wissen, was er tat. Er ging zügig voran, sodass Bella die meiste Zeit in einen leichten Trab verfallen musste, um nicht zurückzufallen. Hin und wieder zog er einen Kompass aus der Jackentasche und warf einen Blick darauf.
Um sich von ihrem schmerzenden Kopf und der zunehmenden Erschöpfung abzulenken, fragte sie den Mann:
"Und, Edward, was machst du so? Ganz alleine? Im Wald? Und wo sind wir eigentlich?"
"Ich bin gerne alleine. Im Wald."
Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um.
"Wir sind zu langsam, kannst du nicht schneller gehen?"
Ihre Erschöpfung stand ihr anscheinend ins Gesicht geschrieben, denn er musterte sie besorgt.
Bella schwankte leicht und wusste nicht, ob sie überhaupt noch einen Schritt weiter gehen konnte.
"Wir könnten Edward und Bella machen", schlug deshalb sie vor und betrachtete die Muskelpakete an seinen Armen. Er sah sie fragend an.
"Erinnerst du dich nicht an die Szene, in der Edward Bella huckepack durch den Wald trägt?"
"Na dann los."
Er drehte sich um und Bella sprang mit letzter Kraft auf seinen Rücken und klammerte sich an seine Schultern. Meine Güte, hatte der Mann Schultern!
"Gut festhalten", warnte er sie und lief in einem lockeren Trab in einem zügigen Tempo los, das er ganz offensichtlich ohne größere Anstrengung halten konnte, trotz der zusätzlichen Last, die er mit sich herumschleppen musste. Er folgte dabei seinem Hund, der jetzt die Führung übernommen hatte, und Bella konzentrierte sich darauf, sich an dem Mann festzuhalten. Was ihr immer schwerer fiel, weil sie wieder starke Kopfschmerzen hatte und eine zunehmende Benommenheit spürte.
Sie schloss ganz kurz die Augen und als sie sie wieder aufschlug, trug sie der Mann auf den Armen. Wie war sie in seine Arme gekommen? Gerade hatte sie sich doch noch an seinen Rücken geklammert! Diese plötzlichen Ortswechsel, die sie neuerdings beim Schließen und Öffnen der Augen erlebte, versprachen ja eine abwechslungsreiche Zukunft!
"Warum trägst du mich auf den Armen?" fragte sie den Mann und erschrak selbst, wie schwach ihre Stimme klang.
"Du bist von meinem Rücken gefallen."
Er warf ihr einen besorgten Blick zu. Bella mochte das warme Gefühl, das sich bei dem Gedanken in ihr ausbreitete, dass sich der Mann Sorgen um sie machte.
"Danke", flüsterte sie.
"Wofür?"
"Dass du mich nicht im Schnee hast liegen lassen."
"Red keinen Unsinn, das würde ich doch nie tun."
Schweigend ging er weiter durch die einsetzende Dämmerung.
"Du warst ziemlich lange bewusstlos."
"Das kommt von dem Schlag auf den Kopf. Ich bin mir nicht sicher, ob mich der Vollpfosten nicht doch erschlagen wollte."
"Ich schau mir das gleich mal an, Bella."
"Sind wir da?" fragte Bella hoffnungsvoll, auch wenn sie nicht wusste, was da war. Alles war besser als die Dunkelheit, der Schnee und die Kälte, die ihr in alle Glieder gekrochen war.
"Ja, wir sind da", versicherte der Mann ihr und trat aus dem dichten Wald auf eine große Lichtung an einem See oder einem breiten Fluss. Auf einer kleinen Anhöhe in Ufernähe stand ein Blockhaus, das aussah wie eine kleine Burg. Es hatte sogar einen kleinen Turm mit großen Fenstern, wie sie im schwindenden Tageslicht erkennen konnte.
"Du hast einen Turm!" rief sie überrascht und fast andächtig.
"Ja, habe ich", bestätigte der Mann das Offensichtliche, während er sie vorsichtig auf dem Boden abstellte und mit einer Hand festhielt, um mit der anderen Hand die massive Tür zu öffnen.
"Ich habe mir immer einen Turm gewünscht!" platzte Bella heraus und schwankte dabei wie ein Bäumchen im Sturm, weil ihr wieder schwindelig war.
Schnell legte der Mann ihr einen Arm um die Taille und zog sie an sich. Bella hörte auf zu schwanken, fast so, als könne der Wind ihr in seinem Windschatten nichts anhaben, und lehnte sich an ihn.
"Was willst du denn mit einem Turm?" fragte der Mann sie neugierig, während er sie in die große Eingangsdiele bugsierte und dort auf einer Truhe absetzte. Dann kniete er sich vor ihr auf den Boden.
"Willst du mir einen Heiratsantrag machen? Ich glaube, dafür kennen wir uns noch nicht gut genug", murmelte Bella, die es einfach nicht lassen konnte. Es war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, zwei Jahre in der Einsamkeit zu leben. Auf einmal schienen all die ungesagten Worte und Sätze nur so aus ihr herauszusprudeln.
Der Mann lachte.
"Nein, ich ziehe dir nur die Schuhe aus, Bella. Vorerst jedenfalls."
Er machte sich an ihren Schuhen zu schaffen.
"Und? Was willst du mit einem Turm anfangen?"
"Ich habe immer von einem Lesezimmer mit großen Fenstern in einem Turm geträumt... Wie wundervoll muss es sein, dort oben zu sitzen, weit über das Land zu blicken und in die Geschichten der Bücher einzutauchen."
Der Mann, der mittlerweile auch seine Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und zog ihr die Jacke aus, als ob sie ein kleines Kind wäre.
Bella mochte das.
Sie mochte das Gefühl, dass sich der Mann um sie kümmerte.
"Das ist ein schöner Traum", sagte der Mann und nahm sie wieder auf den Arm. Bella protestierte nicht dagegen, die Alternative wäre, über den Boden zu kriechen, denn sie war sich sicher, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Mit dem Ellenbogen schaltete der Mann das Licht ein, aber bevor Bella einen Blick in den Raum werfen konnte, wurde sie wieder bewusstlos.
Als Bella wieder zu sich kam, traute sie sich zunächst nicht, die Augen zu öffnen. Wo würde sie diesmal sein? Wieder in der Kiste? Denn diese Sache mit dem Mann, der sie aus der Kiste geholt und durch den Wald getragen hatte, konnte ja wohl nur ein Traum gewesen sein, oder nicht? Schließlich wappnete sie sich für das Unvermeidliche und öffnete die Augen. Helles Tageslicht flutete in den Raum und sie lag in einem großen Bett, das nach Sommer und Sonne duftete und in einem schlichten, fast spartanisch eingerichteten Zimmer stand, in dem es neben dem Bett nur einen kleinen Nachttisch, einen großen Schrank und einen wunderschönen Webteppich in warmen Grüntönen gab. Und zwei große Fenster, die den Blick auf die weiße Winterlandschaft freigaben.
"Wow!" flüsterte sie und als sie ein seltsames Klopfgeräusch hörte, drehte sie den Kopf in die andere Richtung. Auf der anderen Seite vom Bett saß das Hundeungetüm, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Kreuzung aus einem Hund und einem Grizzlybären sein musste. Das Klopfgeräusch stammte von seinem Schwanz, der heftig auf den Boden schlug, während er sie aus einem blauen und einem braunen Auge freudig beobachtete, den Kopf auf die Bettkante gelegt.
"Wage es nicht, auf das Bett zu springen!" sagte Bella und starrte den Hund mit strengem Blick an. Der Hund stieß ein enttäuschtes Winseln aus und Bella tätschelte ihm entschuldigend den Kopf.
"Ich hab dich trotzdem lieb", versicherte sie dem Hund und kraulte ihn hinter den Ohren. Und das war nicht einmal gelogen, obwohl Bella sonst mit Hunden eigentlich so gar nichts anfangen konnte. Immerhin hatte der Hund ihr das Leben gerettet.
"Wie heißt du denn, Hundilein?" fragte sie den Hund und streichelte seinen Kopf. Der Hund stieß ein kurzes Bellen aus, das sich mehr wie ein Blaffen anhörte, und Bella lachte.
"Lass mich raten: Wuffi? Wuff? Bello?"
Der Hund sah sie beleidigt an.
"Hannibal", hörte sie auf einmal eine Stimme.
"Hannibal?"
Überrascht drehte sich Bella zur Tür um, durch die gerade der Mann getreten war.
"Hannibal wie Hannibal Lecter, der Serienkiller?"
Sie schlug die Hände vor den Mund, die aber ohne ihr Zutun auf die Decke sanken, als sie sah, in welchen Zustand sich der Mann befand. Er trug einen Jogger und ein T-Shirt, das an seinem Körper klebte, weil er komplett durchgeschwitzt war. Weshalb Bella auch durch das T-Shirt sein Sixpack erkennen konnte, das schlichtweg zum Niederknien war.
"Ich hab es von Anfang an gewusst", flüsterte sie mit heiserer Stimme und starrte ihn unverhohlen an.
"Was hast du gewusst?" fragte er überrascht und zog sich dann das T-Shirt über den Kopf.
Bella erstarrte und wusste nicht, ob sie die Augen schließen, die Hände vor das Gesicht schlagen oder den Mann weiter anstarren sollte. Sie entschied sich für Letzteres, weil der Anblick einfach zu schön war, um wahr zu sein.
"Dass du ein Serienmörder bist", brachte Bella nur unter Schwierigkeiten heraus, während sie sich die Lippen leckte, die auf einmal ganz trocken waren. Im Gegensatz zu anderen Körperregionen, die schockartig feucht wurden, ja man konnte fast schon sagen, die schockartig geflutet wurden.
"So ein Quatsch!"
Der Mann lachte amüsiert und schien ihre Schnappatmung nicht zu bemerken. Und nicht nur das, er löste den Bändel seines Joggers und zog den ebenfalls aus, sodass Bella jetzt freien Blick auf ein ganz anderes Paket hatte, das sich in seinen Boxer befand.
"Was machst du da?" fragte Bella mit schwacher Stimme und konnte an nichts anderes denken, als daran, wie sich sein Sixpack und das andere Paket wohl unter ihren Fingerspitzen anfühlen würden.
"Duschen. Das mach ich immer nach dem Training."
Mit diesen Worten öffnete er die andere Tür und verschwand im Badezimmer. Bella starrte die Tür an und rang mit rasendem Herzen um Fassung. Halleluja! Wenn das mal kein Anblick gewesen war! Mit Sicherheit eines der absoluten Highlights in ihrem sonst recht eintönigen Leben.
Kurze Zeit später kam der Mann wieder aus dem Bad, die kurzen blonden Haare noch feucht vom Duschen, ein Handtuch lässig um die schmalen Hüften geschlungen. Bella zwang sich dazu, den Blick von ihm abzuwenden und nicht wieder in irgendwelche Fantastereien abzudriften.
"Darf ich das Bad benutzen?" fragte sie stattdessen, auch weil sie unbedingt eine Dusche brauchte.
"Ja klar. Haare kannst du aber nicht waschen, ich habe dir die Platzwunde hinten am Kopf mit Klammerpflastern zugemacht und ein Wundpflaster draufgeklebt. Leider musste ich ein paar von deinen Haaren abschneiden, um die Wunde richtig säubern zu können. Es war ziemlich viel Dreck in der Wunde und sie hatte sich bereits entzündet."
Überrascht fasste sich Bella hinten an den Kopf, wo ihre Finger das Wundpflaster ertasteten. Es tat schon fast nicht mehr weh.
"Ich hab dir deshalb auch Antibiotika gegeben. Die solltest du jetzt drei Tage lang nehmen."
"Äh... danke?" sagte Bella vorsichtig und überwältigt.
"Bist du ein Arzt oder so?"
Er lachte. Dann drehte er sich um und öffnete den Schrank.
"Nein, ich habe nur Erfahrung mit Verletzungen" erklärte er, während er das Handtuch fallen ließ und in ein Paar Boxer und einen Jogger schlüpfte.
Bella rief sich streng zur Ordnung, schlug die Bettdecke zurück und stand vorsichtig auf.
"Geht's?" fragte der Mann.
"Ja, viel besser als gestern. Und danke, dass ich in deinem Bett schlafen durfte. Du hast nicht zufällig irgendwelche Klamotten, die ich anziehen könnte?" fragte sie dann mit wenig Hoffnung. Sie trug nur ihr T-Shirt und ihre Unterhose, die anderen Sachen hatte der Mann ihr ausgezogen und sie hatte eigentlich keine Lust, die dreckigen und blutverschmierten Klamotten wieder anzuziehen.
"Doch, hier." Er deutete auf ein Fach im Schrank.
"Sind von meinem kleinen Bruder, das müsste von der Größe her passen."
"Danke", sagte Bella noch einmal. Dann zögerte sie kurz.
"Wie heißt du eigentlich?" fragte sie dann und spürte eine ungewöhnliche Schüchternheit.
"Draki. Zahnbürsten sind in der rechten Schublade. Ich mach uns mal Frühstück!"
Mit diesen Worten verschwand der Mann aus dem Schlafzimmer und ließ eine ziemlich verwirrte Bella zurück.
Nach einer ausgiebigen Dusche und nachdem sie ihren Haaren mit einem feuchten Handtuch eine Katzenwäsche verpasst hatte, fühlte sich Bella viel besser. Sie putzte sich die Zähne und musterte dabei kritisch ihr Gesicht im Spiegel. Sie war sehr blass, sodass ihre Sommersprossen wie aufgemalt aussahen, und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Kein Wunder nach dem, was gestern passiert war. Bei dem Gedanken daran, dass sie ohne Drakis zufälliges Auftauchen jetzt nicht mehr am Leben wäre, wurden ihr die Knie weich und sie musste sich am Waschbeckenrand festhalten.
"Danke, liebes Universum, für dieses Glücksgeschenk", murmelte sie und lächelte dann ihr Spiegelbild an. Es war schön, am Leben zu sein. Und hier bei Draki zu sein, den sie eigentlich gar nicht kannte, zu dem sie sich aber sehr stark hingezogen fühlte. Und das nicht nur wegen seines Aussehens.
Dann zog sie sich eine der Unterhosen von Drakis Bruder und einen Jogger und ein T-Shirt und darüber ein Langarmshirt an, die fast perfekt passten und nur ein kleines bisschen zu groß waren. BH hatte sie natürlich keinen, aber bei ihr gab es sowieso nicht viel zu halten, sodass sie sowieso meistens keines dieser unbequemen, zwickenden Dinger trug.
Neugierig öffnete sie die Zimmertür und stellte fest, dass sie auf einen Flur ging, in dem eine breite Treppe nach unten führte. Von wo der verlockende Duft nach gebratenem Speck und Kaffee zu ihr aufstieg. Ihr Magen knurrte und erst jetzt wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war.
"Da bist du ja! Genau rechtzeitig, die Spiegeleier und der Speck sind gerade fertig. Hunger?"
Er lächelte sie an. Es war ein ehrliches und freundliches Lächeln, das einen warmen Glanz in seine rätselhaften Augen zauberte und ganz eindeutig von Herzen kam.
"Ich sterbe vor Hunger" informierte ihn Bella, der beim Anblick der Eier das Wasser im Mund zusammenlief.
"Setz dich doch."
Draki deutete auf einen wuchtigen Holztisch an den Fenstern, die eine komplette Seite des großen Raums einnahmen und bis zum Boden reichten. Der Blick auf die weiße Winterlandschaft und den Fluss war atemberaubend, der strahlend blaue Himmel bildete einen fantastischen Kontrast zum Schnee und Bella konnte die klirrende Kälte fast spüren.
"Wie viele Eier?" fragte Draki, der hinter der Theke der offenen Küche mit einer großen Pfanne hantierte.
"Drei?" fragte Bella vorsichtig, weil sie wirklich großen Hunger hatte. Draki hob den Blick kurz von der Pfanne und sah sie an.
"Du kannst so viele Eier haben, wie du willst, Bella."
Sie setzte sich an den Tisch, der mit Brot, Butter, Marmelade, Honig und Käse reich gedeckt war.
"Drei sind ok", versicherte sie ihm. Hatte sie jemals einen netteren Menschen getroffen als Draki?
Er kam mit zwei Tellern hinter der Theke vor und setzte sich zu ihr an den Tisch. Ungläubig starrte Bella auf den Teller von Draki, wo sich bestimmt zehn Spiegeleier auf einem Berg aus gebratenem Speck und Hähnchenbrust türmten.
"Das nenn ich mal ein Frühstück."
Draki grinste sie an und schaufelte sich dann schwungvoll das erste Ei in den Mund.
"Auch was von der Hähnchenbrust?" fragte er und deutete mit dem Messer auf das Fleisch auf seinem Teller.
"Danke, nein, nicht zum Frühstück."
"Nach dem Frühstück müssen wir als erstes die Ranger anrufen", informierte Draki sie, nachdem er die erste Hälfte seines Tellers geleert hatte. Er hatte natürlich recht, daran hatte Bella noch gar nicht gedacht. Es war ja nicht so, als ob jemand auf sie warten oder sie vermissen würde, aber der Vollpfosten lief da draußen noch irgendwo herum und konnte wer weiß was anstellen, mit anderen Frauen, die wahrscheinlich nicht so viel Glück hatten wie Bella.
"Ich habe sie gestern Abend schon informiert, aber ich konnte ihnen deinen Namen nicht sagen. Es gab jedenfalls keine Vermisstenanzeige."
"Das liegt daran, dass es niemanden gibt, der mich vermissen könnte oder würde. Wo sind wir hier eigentlich?"
Bella schmierte sich dick Butter und Honig auf eine Scheibe Brot und biss genussvoll hinein. Draki wischte das letzte bisschen Eigelb mit einem Stück Brot vom Teller und stand dann auf, um sein Handy zu holen, das auf der Theke lag.
"Du hast hier Handyempfang?"
"Ja, ich habe einen satellitengestützten Internetzugang und Satellitentelefon."
Er öffnete Google Maps und deutete auf sein Blockhaus, das auf der Satellitenaufnahme gut erkennbar war. Es gab keine Straße, die zu seinem Grundstück am Fluss führte, und im Umkreis von vielen Kilometern auch keine anderen Häuser oder Städte.
"Ganz schön abgelegen. Wie kommst du denn hierher?"
"Über den Fluss. Unten im Bootsschuppen habe ich ein Motorboot. Manchmal auch mit dem Helikopter."
"Und wo hast du mich gefunden?"
Er zoomte die Anzeige und deutete auf die Karte.
"Hier."
Nachdenklich musterte Bella den kleinen Fleck auf der Landkarte.
"Und was ist das hier?"
Sie deutete auf ein schmales, kaum erkennbares Band, das durch den Wald bis in unmittelbarer Nähe der Höhle führte, in der Draki sie gefunden hatte.
"Eine unbefestigte Forststraße."
"Die ist doch bestimmt mit einem Geländewagen befahrbar, oder? So muss mich mein Entführer in die Höhle gebracht haben. Ich wohne hier, das ist gar nicht so weit weg."
Sie zoomte die Ansicht und zeigte Draki ihr kleines Haus am Rande der Kleinstadt. Gar nicht so weit weg war hier in den Bergen ein relativer Begriff, es mussten ungefähr 250 km sein, die letzten fünfzig davon auf der unbefestigten Forststraße.
"Mir ist das alles ein Rätsel."
Ratlos sah Bella Draki an, der sich vorbeugte und ihr sanft die Wange streichelte. Auf eine derart liebevolle Geste war Bella überhaupt nicht vorbereitet und ohne dass sie es wollte, schossen ihr die Tränen in die Augen.
"He, wir finden schon raus, was passiert ist, versprochen", beruhigte Draki sie, stand auf und zog sie in seine Arme. Es war ein unglaubliches Gefühl, von Draki umarmt zu werden. Ein Gefühl von absoluter Geborgenheit und Sicherheit. Draki war wie das Auge eines Sturms, auch wenn ringsum das größte Chaos herrschte, konnte sie in seiner schützenden Umarmung nichts davon berühren. In Drakis Nähe konnten nichts und niemand ihr etwas anhaben. Sie spürte, wie ihr Herz diesem unglaublichen Mann zuflog, und obwohl sie noch versuchte, es zu verhindern, konnte sie es nicht mehr aufhalten. Es hatte sich für Draki entschieden und dieser Entschluss war unumstößlich. Bella hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.
Draki drückte ihr einen Kuss auf die Haare und ließ sie dann los. Der Schock, den Bella verspürte, als sie aus seiner schützenden Umarmung auftauchte und wieder in die Realität eintauchte, kam einem Sprung ins Eiswasser gleich.
"Soll ich die Ranger anrufen? Vielleicht hat sich ja in der Zwischenzeit auch etwas ergeben."
"Ja, das ist eine gute Idee."
Leicht zittrig setzte Bella sich wieder auf ihren Stuhl und fühlte sich einen Augenblick lang unglaublich verloren. Aber Draki sah sie aufmunternd an und sie riss sich zusammen. Niemals würde ein Mann wie Draki ihre Gefühle erwidern. Sie hatte zwar keine Ahnung, was er machte, aber es war mit Sicherheit etwas ganz Außergewöhnliches und Erfolgreiches. Und sie war mit Sicherheit komplett gewöhnlich und erfolglos. Trotzdem war sie dankbar, dass das Schicksal sie zu Draki geführt hatte oder umgekehrt, denn alleine die Tatsache, dass sie so tiefe Gefühle für einen Mann hatte, wärmte ihr Herz und erfüllte sie mit Freude. Bis gestern war sie sich sicher gewesen, dass sie nicht fähig war, zu lieben und sich einem Mann zu öffnen. Sie ging davon aus, dass seine Gefühle für sie rein freundschaftlich waren, aber alleine durch die Art und Weise, wie er mit ihr umging und sie behandelte, hatte er eine Wärme in ihr Leben gebracht, die einige der dunklen Schatten aus ihrer Seele vertrieben hatte.
Sie beobachtet Draki, der mit den Rangern am Telefon sprach. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck und Bella wusste, dass etwas nicht stimmte. Dass etwas Schlimmes passiert war. Sie konnte es in dem Blick sehen, den er ihr zuwarf, in dem harten Zug, den er um den Mund hatte, in seinem Gesicht, das schlagartig ausdruckslos wurde und keine Gefühle mehr erkennen ließ. Er legte das Handy auf die Theke und kam zu ihr an den Tisch.
"Sag es einfach", forderte Bella ihn auf und ihr Herz raste.
"Wie gut verstehst du dich mit deinen Eltern?" fragte Draki, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
"Gar nicht. Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ist ihnen etwas passiert?"
"Gestern wurde die Leiche deiner Mutter im Haus deiner Eltern gefunden. Sie wurde erschlagen. Von deinem Vater fehlt jede Spur."
Der Schock traf Bella wie ein Faustschlag.
"Erschlagen? Was heißt das? Zu Tode geprügelt?" stieß sie hervor. Das Blut rauschte ihr in den Ohren und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Draki nickte und drückte ihr mitfühlend die Hand und Bella kämpfte darum, wieder Luft in ihre Lungen zu pressen, was ein unmögliches Unterfangen zu sein schien. Bis Draki ihr Kinn umfasste und anhob und ihr direkt in die Augen blickte.
"Einfach weiteratmen. Du schaffst das."
Einen winzigen Augenblick lang verlor sie sich in dem Grün und Grau und Blau, die Mäandern gleich seine Iris durchzogen und wie wirbelnde Ströme zu fließen schienen. Dieser Augenblick reichte aus, dass sie wieder Luft bekam und nach einer Weile hatte sich ihre Atmung normalisiert.
"Willst du darüber reden?"
"Eigentlich nicht. Es war keine gute Zeit und ich habe meine Eltern und alles, was mit ihnen zu tun hat, schon lange hinter mir gelassen."
"Glaubst du, dass es dein Vater war?"
"Ich bin mir sicher, dass er es war."
Bella konnte spüren, wie die alte Bitterkeit wieder in ihr aufstieg.
"Er ist krankhaft eifersüchtig, jedenfalls war er das, als ich noch bei meinen Eltern gelebt habe. Gleichzeitig hat er meine Mutter abgöttisch geliebt. Ich glaube, das ist der Grund dafür, warum sich meine Mutter nie von ihm getrennt hat. Ich hatte immer gehofft, dass sie in den vergangenen Jahren doch noch irgendwie den Absprung geschafft hat, aber das hat sie ja ganz offensichtlich nicht."
Draki griff jetzt auch nach ihrer anderen Hand und beugte sich leicht nach vorne. Bella konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr jemals jemand seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wie Draki jetzt gerade.
"Das kann kein Zufall sein. Dass deine Mutter am gleichen Tag getötet wurde, an dem du entführt worden bist. Solche Zufälle gibt es nicht. Wir müssen das verbindende Element finden."
"Da müssen wir nicht lange suchen, das verbindende Element kann ja nur mein Vater sein. Er hat mich immer verachtet, vielleicht sogar gehasst. Ich weiß gar nicht so genau, warum. Vielleicht weil ich kein Junge war oder weil ich seinen Vorstellungen von einer Tochter nicht entsprochen habe. Keine Ahnung."
"Da stimme ich dir zu. Aber warum ausgerechnet jetzt? Was ist passiert, dass er am gleichen Tag seine Frau tötet und dich entführen lässt?"
Bella sprang auf und lief unruhig hin und her. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Sinn machte es.
"Ich glaube nicht, dass er mich entführen lassen wollte. Das macht ja keinen Sinn."
"Er wollte dich töten lassen."
"Ja, ein Auftragsmord."
"Und du bist nicht tot, weil es sich der Auftragsmörder anders überlegt hat."
"Genau, aber bestimmt nicht aus Nächstenliebe."
"Nein, das glaube ich auch nicht."
Draki stand auf, kam zu ihr und nahm sie wieder in die Arme.
"Letztendlich geht es doch immer nur ums Geld", murmelte er in ihre Haare und streichelte ihren Rücken.
"Aber ich bin eine völlig bedeutungslose und unwichtige Person. Ich lebe ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben."
Drakis Hand wanderte ihren Rücken hoch bis zu ihrem Nacken. Er umfasste ihren Nacken und streichelte ihre Wange mit dem Daumen. Bella lehnte den Kopf an seine Brust und ließ es geschehen, sie konnte später darüber nachdenken, was das zu bedeuten hatte.
"Ganz offensichtlich denken nicht alle so. Ganz offensichtlich bist du von Bedeutung und wichtig für eine andere Person. Sonst wäre diese Person ja nicht erpressbar."
Er machte eine kurze Pause, was Bella aber nicht störte, da sie die Ruhe, die er ausstrahlte, dringend brauchte, und keine Eile hatte, sich wieder aus seiner Umarmung zu lösen.
"Mir fällt nur eine logische Erklärung ein."
Überrascht sah Bella Draki an.
"Dein Vater ist eine wichtige Person. Also dein richtiger Vater."
Bella wollte protestieren, aber plötzlich ergab alles einen Sinn. Die Ablehnung ihres Vaters, die stumme Duldung ihrer Mutter, ja sogar ihr französischer Name.
"Die Frage ist nur, wer ist mein richtiger Vater?"
Draki nahm ihre Hand und zog sie zur Theke.
"Komm, ich mache uns einen Espresso. Dann mache ich mal ein paar Anrufe, ich kenne da ein paar Leute, die uns vielleicht weiterhelfen können."
"Echt? Was bist du? Ein Cop?"
"So was ähnliches."
Bella starrte ihn an. Die Größe. Die Muskeln. Die extreme Fitness. Die Besonnenheit. Die Ruhe.
"SWAT", sagte sie dann.
Draki nickte und schaltete die Espressomaschine ein.
"Meine Güte", flüsterte Bella, "ich glaube, gestern habe ich mein komplettes Glückspensum für mein restliches Leben aufgebraucht. Du bist der Black Swan."
Das brachte Draki zum Schmunzeln.
"Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse", bestätigte er und stellte ihr ein Espressotässchen auf die Theke.
Bella erstarrte.
Draki verstand sie.
"Ich glaube nicht, dass es dich wirklich gibt, Draki. Du bist eine Halluzination, die sich mein Gehirn nach dem Schlag auf den Kopf zusammenfantasiert. Vielleicht liege ich ja auch im Koma oder vielleicht bin sich sogar schon tot..."
"Hmm", brummte Draki. Dann kam er um die Theke herum, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie. Er küsste sie genauso wie er war, sanft, aber in keiner Weise zurückhaltend, liebevoll, aber furchtlos, freundlich und stark.
Als er den Kuss beendete, starrte Bella ihn sprachlos an.
"Ich bin keine Halluzination", sagte er mit einem selbstgefälligen Lächeln und ging wieder zurück zur Espressomaschine, um sich selbst auch einen Espresso zu machen.
Bella räusperte sich.
"Na dann hätten wir das ja geklärt", sagte sie mit schwacher Stimme und klammerte sich an ihrem Espressotässchen fest, weil sie sich irgendwo festhalten musste.
"Ich mache mal ein paar Anrufe. Da kannst du leider nicht mithören, ich gehe deshalb in mein Arbeitszimmer. Aber ich bin gleich wieder bei dir. Fühl dich ganz wie zu Hause."
"Ok. Darf ich in den Turm gehen?"
"Na klar", sagte er und gab ihr im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange.
Meine Güte, sie war verloren, für sie gab es keine Rettung mehr. Nichts und niemand konnte sie vor Draki retten. Nichts und niemand.
Sie räumte den Frühstückstisch ab, spülte das Geschirr und ging dann neugierig die Wendeltreppe hoch, die in das Türmchen führte. Was sie sah, als sie am oberen Ende der Treppe angekommen war, verschlug ihr den Atem. Und daran war nicht nur der unglaubliche Ausblick Schuld, nein, es waren die Bücherregale, die jedes Stückchen Wand zwischen den Fenstern einnahmen, und die beiden gemütlichen Ledersessel mit Fußhockern, die um den zentralen Kamin gruppiert waren, zusammen mit kleinen Beistelltischchen und modernen Stehlampen, die aber fantastisch zu den alten Ledersesseln passten.
"Wusste ich doch, dass es dir gefallen würde", sagte Draki, der direkt hinter ihr stand. Sie zuckte erschrocken zusammen, da sie ihn nicht hatte kommen hören. Wie konnte sich ein so großer und massiger Mann so leise bewegen?
Er lachte, anscheinend erfreut darüber, dass es ihm gelungen war, sie zu erschrecken. Dann umarmte er sie von hinten und sie lehnte sich mit einem Seufzen an ihn.
"Genau so habe ich es mir immer vorgestellt, mein Lesezimmer im Turm. Na ja, vielleicht mit bunten Sesseln, aber die Ledersessel sind auch ok."
"Du bist unglaublich, Bella. Die unglaublichste Frau, die ich je getroffen habe. Das habe ich schon gewusst, als du noch in der Kiste gesteckt hast."
"Und das bedeutet was?" fragte Bella und verstand ihre eigenen Worte kaum, so laut schlug ihr Herz.
"Dass ich dich jetzt wieder küssen werde", flüsterte Draki ihr ins Ohr.
"Und wenn ich das aber gar nicht will, von dir geküsst zu werden?" fragte Bella trotzig.
"Willst du aber", murmelte Draki und setzte sein Vorhaben auch gleich in die Tat um.
Und wie sie es wollte, von ihm geküsst zu werden. Sie verlor sich in seinem Kuss, der ihre Nerven zum Vibrieren und ihre Haut zum Glühen brachte.
Nach dem Kuss starrte sie Draki atemlos an.
"Kann ich mehr davon haben?" fragte sie und gestattete ihren Fingern, das zu tun, was sie schon am Morgen so gerne getan hätten.
"So viel du willst", sagte Draki und küsste sie wieder.
Als er diesmal von ihr abließ und sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf dem Bett. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dahin gekommen war, und diese Sache mit dem spontanen Ortswechsel war wirklich seltsam, aber das war ihr völlig egal. Sie hatte nur Augen für Draki, der genau zu wissen schien, was sie wollte und was sie brauchte und der sie mit einer Intensität und Hingabe liebte, die überwältigend war. Und weil ihr Herz sich für ihn entschieden hatte, spürte Bella eine tiefe Vertrautheit und ließ es zu, von ihm geliebt zu werden.
Sie hatte nicht gewusst, dass es sich so mit einem Mann anfühlen konnte, es war schwindelerregend und mitreißend, ein Rausch der Sinne, ein wilder Ritt, unterbrochen von Momenten großer Zärtlichkeit. Es war so überwältigend, dass Bella schließlich nicht mehr wusste, wohin mit all ihren Gefühlen, und in Tränen ausbrach.
"Warum weinst du, Bella?" fragte Draki und zog sie eng an sich, sodass sie seinen Herzschlag hören konnte.
"Es ist so viel Liebe, dass mein Herz gleich zerspringt", flüsterte sie.
"Nein, das wird es nicht. Dein Herz ist groß genug für diese Liebe, weil es dafür geschaffen wurde, mich zu lieben. Genau wie mein Herz dafür geschaffen wurde, dich zu lieben."
Er küsste ihre Tränen weg und dann zeigte er ihr, was er damit gemeint hatte.
Ein halbes Jahr später saß Bella im Pub. Es war Samstagabend und die Happy Hour war in vollem Gange. Bella lächelte verträumt und starrte ihr Glas Weißwein an, von dem sie kaum genippt hatte.
Tatsächlich hatte Draki mit seinen Anrufen einiges in Bewegung gesetzt, sodass ihr leiblicher Vater schnell gefunden war. Er war ein erfolgreicher Unternehmer und hatte bis zu dem Tag, als er den Anruf des Erpressers erhalten hatte, nichts von seiner Tochter gewusst und die kurze Affäre, die er mit Bellas Mutter gehabt hatte, schon längst vergessen. Er hatte trotzdem die nicht unbeträchtliche Geldsumme besorgt, da er unter keinen Umständen das Leben von Bella riskieren wollte, unabhängig davon, ob sie jetzt seine Tochter oder einfach nur eine junge Frau war. Die Geldübergabe hatte allerdings nie stattgefunden, der Erpresser hatte sich nicht mehr gemeldet, sodass der Mann die ganze Sache schließlich als einen schlechten Scherz abtat.
Der Erpresser hatte sich nicht gemeldet, weil er mit dem Geländewagen in eine Felsspalte gestürzt und in seinem Auto erfroren war, aus dem er sich nicht hatte befreien können.
Ihr flüchtiger falscher Vater wurde nach einigen Tagen verhaftet. Er ließ sich widerstandslos festnehmen und gestand, dass er Bellas Mutter aus Eifersucht getötet hatte, als er herausgefunden hatte, dass sie ihn betrogen hatte und Bella nicht sein Kind war, und dass er auch Bella aus Rache hatte töten wollen.
Bella und ihr richtiger Vater hielten Kontakt und lernten sich langsam kennen. Es bestand kein Zweifel hinsichtlich seiner Vaterschaft, da sie ihm unglaublich ähnlich sah, die gleichen kobaltblauen Augen, die gleichen kupferroten Haare, die gleichen Sommersprossen und sogar der gleiche Mund. Und er war auch sehr groß, im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrem falschen Vater. Er war überglücklich, dass das Schicksal ihn und Bella zusammengeführt hatte, denn sie war sein einziges Kind.
Als Bella ihm die Tagesdecken zeigte, die sie entwarf und nähte und von deren Verkauf sie lebte, war er begeistert über die komplexen fantasievollen Motive und die Ausführung und schlug ihr vor, zu ihm in die Stadt zu ziehen und eine kleine Firma zu gründen, um die Decken zu fertigen. Das bedeutete, dass Bella in Zukunft nur noch die Entwürfe machen würde und ihre Mitarbeiter dann die Decken nähen würden. Sie freute sich schon unglaublich auf das Projekt und heute war ihr letzter Tag hier, in dieser kleinen Stadt und in ihrem Holzhaus.
Plötzlich verstummte der Lärm im Pub schlagartig und Bella wusste sofort, was los war. Sie drehte sich um und lächelte Draki an, der in der Tür des Pubs stand und anscheinend nicht zu bemerken schien, dass ihn alle mit offenem Mund anstarrten. Er hatte nur Augen für sie und ging direkt zu dem kleinen Ecktisch, an dem sie saß.
"Da bist du ja", begrüßte ihn Bella und konnte spüren, wie ihr Herz übersprudelte, wie jedes Mal, wenn sie Draki nach einem seiner Einsätze wiedersah.
"Sieht so aus", knurrte er und zog sie in seine Arme, um sie mit einem wilden Kuss gebührend zu begrüßen.
"Du kommst jetzt mit mir", knurrte er dann.
"Sieht so aus", bestätigte Bella, woraufhin sie und Draki in Gelächter ausbrachen und er sie wild im Kreis herumschwenkte und sein Gesicht in ihren Haaren vergrub.
Draki setzte die atemlose Bella wieder auf dem Boden ab und rief dann mit lauter Stimme:
"Wir haben etwas zu feiern, sie hat ja gesagt. Die Runde geht auf mich!"
Die Neuigkeit wurde unter großem Gejohle aufgenommen.
Bella starrte Draki verwirrt an.
"Wovon redest du?"
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und deutete auf den Ring, der plötzlich an Bellas Hand funkelte. Wie war der Ring dahin gekommen?
Draki griff nach ihr und nahm sie auf den Arm.
"Und?" fragte er und küsste sie dann.
"Ja", flüsterte Bella und küsste ihn zurück.