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Joe Anne - Die Traumdroge

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Joe Anne - Die Traumdroge

Science Fiction Roman

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Begleitete Anna, die letzte Erdbewohnerin, bei ihrem wilden Weltraumabenteuer auf der Suche nach Antworten.

Die Geschichte

Eines Morgens wacht Anna auf und muss zu ihrem Entsetzen feststellen, dass die gesamte Menschheit einer schrecklichen Krankheit zum Opfer gefallen ist.
Nur Anna hat überlebt.
Dass sie das zu etwas ganz Besonderem macht, merkt sie erst, als sie auf Aliens trifft und zum Spielball von Machenschaften mit unvorstellbaren Ausmaßen wird, in denen ein intergalaktischer Krieg, die Traumdroge Nan und Wesen mit Psi-Kräften verwickelt sind, zu denen jetzt auch Anna zählt.
Sie wird ungewollt zur Heldin und lüftet schließlich das bestgehütete Geheimnis der Galaxie, in dessen Mittelpunkt der Planet Erde steht.

Zum Buch

Als ich vor kurzem mein Bücherregal neu sortiert habe, bin ich auf ein paar Science Fiction Romane aus den 70er und 80er Jahren gestoßen und sofort habe ich eine tiefe Nostalgie verspürt. Dieser Roman ist eine Hommage an die Anfänge dieses Genres, an die Zeiten, in denen Raumschiff Enterprise noch in den unendlichen Weiten des Weltalls unterwegs war und Han Solo gegen das Böse gekämpft hat. Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, den Roman zu schreiben, und ich hoffe, euch macht es genauso viel Spaß, ihn zu lesen.

Zum Reinlesen

Das komplette erste Kapitel für euch zum Reinlesen und Reinschnuppern! Viel Spaß!

KAPITEL 1 - QUECKSILBER

Der Regen ging in Strömen nieder. Er prasselte auf den zersprungenen Uniplastbelag der Straßen, warf sich gegen die Gebäudefronten und rann in Sturzbächen an ihnen herab, um sich auf der Straße mit den bereits vorhandenen Wassermassen zu vereinigen. Die Gebäude blickten stumm und geduldig aus leeren Augenhöhlen in das Inferno. Letzte verblasste Farbreste lösten sich unter der Wucht der Schauer und entblößten trostlosen graugelben Uniplast. Ein riesenhaftes Werbediplay verzuckte sein Leben in grellen roten Blitzen. Markerschütternder Donner erfüllte die Luft und ließ die Knochen vibrieren. Das Getöse rührte nicht vom Unwetter her, sondern hatte seinen Ursprung in einem Gleiter, der in einer Flughöhe durch die Einflugschneise raste, die jedem Efgeler die Augen aus den Höhlen hätte treten lassen. Niemand scherte sich hier einen Scheiß um Gesetze. Ein paar abgerissene Typen durchstreiften das Areal, aber das waren nur die völlig Verzweifelten oder hoffnungslos Verrückten, alle anderen hatten sich irgendwo verkrochen.

Auf einer eingestürzten Mauer, die vielleicht einmal den Flughafen eingegrenzt hatte, saß eine Frau. Sie saß dort schon so lange, dass sich niemand erinnern konnte, ob sie schon immer dort gesessen hatte. Wenn überhaupt jemandem aufgefallen war, dass sie existierte. Der Regen hatte die wenigen Kleider, die sie trug, völlig durchnässt. Sie trug keinen Protektor. Sie trug überhaupt nichts außer einer zerrissenen Hose, ein paar Schuhen, die auch schon bessere Tage gesehen hatten, und einem viel zu großen, verblichenen Hemd.

Sie saß in vollkommener Unbeweglichkeit und starrte auf die Hauswand gegenüber. Alle zwanzig Sekunden blinzelte sie, klappte die Augenlieder bedächtig herunter und hob sie wieder an. Ihr langes Haar klebte wie angefaulter Seetang an ihrem Rücken und ihren Wangen.

Sie blinzelte wieder.

Durch das zerfallene Flughafentor kam langsam ein kleiner Pulk von Wesen, die keine Eile zu haben schienen. Das irre Glühen der Protektoren flackerte um ihre Anzüge. Da sie Protektoren hatten, handelte es sich vermutlich um die Besatzung des gerade gelandeten Gleiters. Die Gruppe näherte sich der Mauer und der Frau, selbst mehr Teil der Mauer als Lebewesen. Sie wendete ihren Blick nicht von der Häuserfront ab. Es war mehr als fraglich, ob sie die sich nähernden Wesen überhaupt bemerkte. In ihrer Mitte geleiteten diese einen Mann, der keinen Protektor hatte und schon nach dieser kurzen Strecke bis auf die Haut nass war und damit der Frau auf der Mauer glich. Sein Gesicht war leer, die Gesichtsmuskeln völlig erschlafft. Er bewegte sich mechanisch und doch mit einer verhaltenen Kraft, die ihm etwas Geschmeidiges verlieh, das auch von der Lethargie, die ihn nun umfing, nicht ganz unterdrückt werden konnte.

Als die Gruppe an der Frau vorbeikam, wendete der Mann ihr sein leeres Gesicht zu, als hätte ein unsichtbarer Faden seinen Kopf herumgerissen. Er blieb stehen. Die beiden Wesen, die hinter ihm liefen, stießen mit ihm zusammen und sahen ihn überrascht. Der Mann schwankte kurz, fiel aber nicht. Die vorderen zwei Wesen drehten sich um und ein kreischendes, schnarrendes Stimmengewirr setzte ein. Eines der Wesen versetzte dem Mann einen harten Stoß. Er ging einen Schritt und blieb dann wieder stehen, den Blick unverwandt auf das Gesicht der Frau geheftet.

Die Frau blinzelte mechanisch. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie dem Mann ins Gesicht und blickte ihm in die Augen, die Pfützen aus geschmolzenem Quecksilber glichen und über denen ein stumpfer Schleier lag. Die Frau legte die Stirn in Falten und schien zu überlegen.

Die Wesen hatten ihre Waffen gezogen und starrten sie nun ebenfalls an. Sie schnalzten drohend in ihre Richtung, doch als sie weiterhin in ihrer Bewegungslosigkeit verharrte, klemmten sie den Mann zwischen sich und schleiften ihn fort.

Ein schrilles Kreischen durchbrach die Regenmonotonie. Mit einem Schrei stürzten zwei der Wesen zu Boden, blieben in Pfützen ihres Blutes und dem Leuchten der Protektoren liegen. Das eine Wesen zuckte krampfhaft mit einem Bein. Vor. Zurück. Vor. Zurück. Dabei stieß es stumme Schreie aus. Die anderen Wesen schossen mit einer unmerklichen Reaktionszeit zurück, feuerten zielsicher und schnell, wobei sie den Mann mit ihren Körpern deckten und versuchten, in den Schutz der Mauerruinen zu gelangen. Raue Schreie zeugten von ihrer Treffsicherheit, aber sie waren zu weit von der Mauer entfernt, standen frei, schutzlos, brachen innerhalb von Augenblicken zusammen. Nur der Mann lebte noch. Er starrte nun auf das Haus, von dem die Schüsse gekommen waren. Ein Wesen kam geduckt angerannt, die Waffe im Anschlag. Ein leistungsstarkes Molekulargewehr. Neu. Teuer. Das Wesen war angeschossen und Blut rann sein Bein hinab. Ungeachtet dessen rannte es im Zickzack wie eine Maschine in einem unglaublichen Tempo über die Straße. Vor dem Mann blieb es stehen und starrte ihn an. Er starrte mit leerem Gesicht zurück.

Da brach das Wesen in Gelächter aus, ein raues, tiefes, irres Lachen. Mit flinken Fingern zog es dem Mann eine Kette aus dem Halsausschnitt und betrachtete den Anhänger eingehend. Aus der Armbeuge heraus feuerte es das Gewehr ab. Der Molekularstrahl durchtrennt die Kette und hinterließ einen blutigen, versengten Streifen am Hals des Mannes. Der zuckte nicht und bewegte sich nicht. Das Wesen lachte wieder, steckte seine Beute ein und ging ein paar Schritte zurück. Dann hob es langsam das Gewehr und zielte auf den Mann.

Plötzlich kam Bewegung in die Frau. Sie griff einen der losen Uniplastbrocken und schleuderte ihn mit überraschender Wucht und Zielgenauigkeit. Mit einem dumpfen Plopp schlug der Stein dem Wesen das Gewehr aus der Hand. Mit einem Zischen fuhr es herum und hielt sich die zerschmetterte Hand. Fassungslos starrte es die zerlumpte durchweichte Frau an. Mit einem weiteren Plopp traf ein zweiter Stein sein Ziel und verwandelte das Gesicht des Wesens in einen blutigen Brei. Ohne einen weiteren Laut kippte das Wesen gegen den Mann, rutschte an ihm ab und stürzte auf den Boden.

Mit langsamen Bewegungen stand die Frau auf und ging zu dem toten Wesen und dem Mann, der immer noch starr und stumm dastand. Vor dem toten Wesen blieb sie stehen. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Dann schüttelte sie den Kopf. Einmal, zweimal, immer wieder. Schließlich sah sie den Mann an. Schüttelte wieder den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, verwirrt, als sei sie gerade erwacht. Sie blickte sich um. Blickte an sich herab. Betrachtete ihre Hände. Dann schien sie zu einem Schluss zu kommen. Rasch kniete sie nieder und durchsuchte sie die Taschen des Wesens. Dann zog sie ihm seine Jacke aus, stopfte ihre Beute in die zahlreichen Taschen und schob das Molekulargewehr vorne in den Hosenbund. Sie zog die Jacke über. Die nassen Haare wurden von der Jacke verdeckt und sie sah nicht mehr ganz so aus wie eine Wasserleiche. Dann rannte sie zu den anderen Leichen, durchsuchte auch sie, schob das ein oder andere ein.

"Komm", forderte sie den Mann auf und lief los, weg von dem Flughafen und den Toten, die sich langsam im Regen aufzulösen schienen. Der Mann bewegte sich nicht. Sie kam zurück, zog ihn am Ärmel.

"Komm jetzt", forderte sie ihn wieder auf.

Er stierte sie an, dann setzte er sich mechanisch in Bewegung. Sie behielt seinen Ärmel fest in ihrer Hand. Als er ihr nicht schnell genug folgte, griff sie ihn um die Hüften, legte seinen anderen Arm um ihre Schultern, und setzte sich zügig in Bewegung. Im Gleichschritt platschten sie durch den nicht enden wollenden Strom von Regenwasser. Die toten Häuser wichen ganz allmählich Gebäuden, deren Fenster noch intakte Scheiben hatten. Aus billigen Kneipen drangen Licht und Lärm.

Die Frau schleppte ihre Last weiter, wich in eine Nebenstraße aus, setzte Fuß vor Fuß, mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der sie vorher bewegungslos verharrt hatte. Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, hielt sie inne und blickte sich unruhig um. Dann trat sie mit dem Mann in den Eingang einer schummrig beleuchteten Kneipe, über deren Eingang das Schild für "Zimmer frei" müde flackerte. Sie lud den Mann ab und betrat die Kneipe zusammen mit dem Mann, den sie mit festem Griff hinter sich herzog.

Rauch, Lärm, Stimmengewirr und der intensive Geruch nach Angst, Drogen und Rauschmitteln schlug ihnen entgegen. Sie steuerte zur Bar, ließ sich auf einem Hocker nieder, rammte einem Wesen die Ellenbogen in die Weichteile und quetschte ihren Begleiter in die entstandene Lücke.

"Haste was zu essen?" fragte sie den Wirt, einen quirligen, schmuddeligen Gesstha. Er grunzte. Sie grub in ihren Taschen und brachte eine Kredkarte zum Vorschein. Er checkte die Karte im Thekencomp. Sie gehörte einem der Toten, aber es war was drauf und sie war nicht gesperrt. Hier zählte bloß der Kred, woher genau der stammte, interessierte niemanden. Sie schnappte ihm die Karte wieder weg, bevor er Einheiten transferieren konnte.

"Haste was zu essen?" wiederholte sie.

Der Gesstha nickte und schrie ein paar Worte nach hinten.

"Für ihn auch."

Der Gesstha nickte nochmal und stellte zwei Gläser auf der Theke ab.

"Trink", sagte die Frau zu dem Mann.

Der hob das Glas und nahm einen Schluck. Er fiel nicht vom Hocker, also trank die Frau trank. Dann kam das Essen, zwei Schüsseln, aus denen es Dampf aufstieg, mit etwas drin, das gut roch. Die Frau aß gierig und nach kurzem Zögern tat der Mann es ihr gleich.

"N Zimmer", verlangte sie und beobachtete den Wirt aus halb geschlossenen Augen.

"Macht zwanzig Standards."

Er belauerte sie aus seinen geschlitzten grünen Echsenaugen. Die Frau griff erschreckend schnell über die Theke, drückte dem Gesstha das Molekulargewehr unter das Kinn und schnaubte.

"Fünf Standards", entgegnete dieser ungerührt.

"Da ist das Essen dabei. Und ein Frühstück."

Der Gesstha nickte zustimmend und ging Gläser auffüllen. Als er wieder bei ihnen vorbeikam, knallte er ihnen eine Codekarte auf den Tisch.

"Nummer 17. Oben."

Die Frau nickte, kippte den Rest aus dem Glas hinunter und zerrte den Mann vom Stuhl. Der folgte ihr stumpfsinnig.

"He!"

Der Gesstha winkte. Sie ging zurück, gab ihm die Karte und spielte mit dem Gewehr, aber der Gesstha transferierte ungerührt die Kreds.

Das Zimmer war klein und schmuddelig, aber mit einer Saneinheit in einer Ecke und einem sauberen Bett.

"Zieh dich aus", befahl sie dem Mann.

Der Mann kam ihrem Befehl gleichmütig nach und sie konnte sehen, dass sein Körper Spuren von Misshandlungen zeigte, zum Teil vernarbt, zum Teil frisch und blutig, aber er schien keinen Schmerz zu spüren.

Die Frau zerrte ihre nassen Kleider vom Leib, breitete sie sorgfältig über die Stühle, hängte auch seine Kleidung auf. Dann nahm sie ihn bei der Hand und trat mit ihm in die Saneinheit. Wellen umspülten sie, lösten Schmutz- und Blutpartikel, nahmen den Schweiß und das Salz mit sich. Als sie mit dem Mann aus der Saneinheit trat, sah sie, dass ein Einwegkamm und ein Einwegrasierer im Materialauswurf lagen, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass diese Gegend schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie kämmte den Mann und rasierte ihn.

"Geh ins Bett" forderte sie ihn dann auf und wie schon zuvor, folgte er ihr widerspruchslos. Anschließend kämmte sie das eigene Haar aus, eine mühselige, zeitraubende Arbeit, und flocht es zu einem festen Zopf, der ihr dicht am Kopf anlag und dann weit über ihren Rücken fiel. Wie lang ihre Haare geworden waren! Mit einem Seufzer kroch sie zu dem Mann ins Bett.

"Ich nenn dich Quecksilber, hast du verstanden?"

Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die muskulöse, geschundene Brust.

"Du bist Quecksilber. Mich kannst du Anna nennen."

Dann lachte sie, als hätte sie einen guten Witz gemacht. "Entspann dich. Wir schlafen jetzt. Licht aus!"

Der Steuercomp befolgte ihren Befehl und das Licht erlosch. Nur die Straßenlichter und der Abglanz der Reklamediplays erhellten das Zimmer.

"Quecksilber, du musst dich entspannen, wenn du schlafen möchtest. Und du musst deine wunderschönen Augen schließen", sagte sie dann mit einem unvermittelten Ton von Zärtlichkeit in der Stimme. Sanft strich sie über seine Augenlider. Mit einem tiefen Seufzer schloss der Mann die Augen und legte sich bequem zurecht. Die Frau kuschelte sich an ihn und fiel sogleich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Im Morgengrauen erwachte sie und war sofort hellwach, checkte mit einem Griff und einem Blick die Tür, das Gewehr und den Mann, entspannte sich dann noch einmal, atmete flach durch den Bauch und genoss noch einen Augenblick die Wärme ihres ungewollten Gefährten. Mit einer Hand fuhr sie über die Konturen seines Körpers und fragte sich, was er getan hatte, dass die Wesen ihn so misshandelt hatten. Oder was er nicht getan hatte. "Vielleicht bist du ja das größte Arschloch des Universums und ich habe den Guten erschlagen", murmelte sie, dann sprang sie aus dem Bett, stellte sich vor den Spiegel und betrachtete mit einer Intensität ihr eigenes Gesicht, die jeden Beobachter hätte frösteln lassen. Schlagartig brach sie zusammen, schluchzte krampfhaft und heftig, ihre Schultern zuckten. Sie hob das Gesicht aus den Händen, starrte sich wieder an, tränenüberströmt, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Unter ihren blauen Augen lagen tiefe, dunkle Schatten. Ihr aschfarbenes Haar hatte sich schlaff aus der Umklammerung des Zopfes gelöst und baumelte in trägen Strähnen um ihre bleichen Wangen. Sie zog die Nase hoch und seufzte.

"Quecksilber, wach auf."

Er war sofort wach und stand auf, obwohl sie leise und ruhig zu ihm gesprochen hatte. Seine Bewegungen waren sicherer, gezielter. Aber seine Augen waren immer noch verschleiert. Nichts deutete darauf hin, dass er sie wiedererkannte. Die Frau zog ihn mit sich unter die Dusche und kontrollierte seine Verletzungen, die nicht gut aussahen.

"Bleib einfach immer in meiner Nähe, egal was geschieht, hast du mich verstanden?"

Sie blickte ihm aufmerksam ins Gesicht, suchte nach einem Zeichen der Zustimmung. Ein schöner Mann, dachte sie, und ihre Augen folgten den Konturen seines Gesichtes. Seine Ausdruckslosigkeit war erschreckend, doch plötzlich nickte der Mann, angestrengt, langsam, aber deutlich.

Die Frau warf den Kopf in den Nacken und lachte. Es war ein warmes, tiefes Lachen, das den Raum erfüllte.

"Rasier dich, Quecksilber. Kannst du das?"

Sie drückte ihm einen Einwegrasierer in die Hand und stellte ihn vor den Spiegel. Folgsam rasierte er sich. Die Frau kämmte ihr Haar aus und flocht es dann wieder zu einem festen Zopf.

"Was haben sie nur mit dir gemacht? Was haben sie nur mit uns gemacht?" flüsterte sie seinem apathischen Spiegelbild zu.

Wie nicht anders zu erwarten, fuhr er mit seiner Rasur fort, ohne sie zu beachten. Die Frau ging hinüber zu den ausgebreiteten Kleidungsstücken und sortierte sie aus. "Wenigstens sind sie jetzt sauber."

Sie schlüpfte in ihre Sachen und breitete den Inhalt der Jackentaschen auf dem Bett aus. Die Kredkarten schob sie wie ein Kartenspiel zusammen und warf sie dann in den Müllvernichter. Mit einem leisen Puffen zerstäubten sie in ihre Atome. Es blieben noch einige schillernde Aulegmünzen, das fälschungssicher Zahlungsmittel, das in der ganzen Galaxie akzeptiert wurde, und ein paar Schmuckstücke. Die Frau verteilte die Münzen und Schmuckstücke auf diverse Taschen und behielt nur den Anhänger in der Hand. Es war eine kunstvoll geschnitzte, lebensechte Figur aus einem matten, cremefarbenen Stein, die ein vielgliedriges, insektoides Wesen darstellte. Der Mann kam hinüber zu ihr.

"Zieh dich an, Quecksilber", befahl sie ihm. Dann ließ sie den Anhänger vor seinem Gesicht hin und her baumeln.

"Gehört der dir?"

Der Mann zog sich an und blickte nicht einmal auf. Die Frau betrachtete den Anhänger noch einmal, runzelte die Stirn und schob ihn dann in eine weitere Tasche. Dann steckte sie das Molekulargewehr in den Hosenbund und sah sich um. Da sie nichts besaß, konnte sie auch nichts vergessen. Sie öffnete die Tür mit der Codekarte und ging durch den stinkenden, dunklen, schmalen Flur die Treppe hinunter in die Kneipe. Hinter sich hörte sie die leisen, leichten Schritte des Mannes.

Der schmuddelige Gesstha war schon da, trat gegen einen Reinigungsroboter, der aufgrund irgendeiner Fehlfunktion einen kleinen Haufen Dreck und Asche ausgekotzt hatte. Mit einem Keuchen lief der Rob wieder an, schluckte den Abfall und setzte seine Wanderung fort. Der Gesstha sah sie kommen, schrie einen Befehl und verdrückte sich hinter seine Theke. Die Frau setzte sich. Der Mann glitt auf den Hocker neben sie.

"War mal ne bessere Gegend hier, was?"

Der Gesstha ignorierte sie, aber plötzlich ruckte sein Kopf herum. Die Frau hielt eine der Aulegmünzen zwischen Daumen und Zeigefinger, rollte sie leicht hin und her. Der Gesstha schlurfte nach hinten, kam mit einem Tablett zurück. Darauf befand sich Brot, flache, dunkle, frische Fladen, kaltes Fleisch mit scharfer Soße und diverse Gemüse. Gesstha hatten nun mal etwas für gutes Essen übrig. Er stellte das Tablett ab, ging noch einmal zurück und kam mit einem dampfenden Krug Klah und drei Bechern wieder. Die Frau befüllte einen Teller und stellte ihn vor den Mann, der mechanisch zu essen begann.

"Kann schon sein."

Der Gesstha füllte die Becher mit Klah und verteilte sie. Die Frau aß und wartete.

"Aber jetzt nich mehr. Kommn nich mehr viele Gleiter. Der neue Hyperdrive, da brauchense 'n Sprungpunkt hier nichmehr."

Die Frau zog eine Augenbraue hoch, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und nahm einen Schluck Klah.

"Und wennse kommen? Wie gestern?"

Der Gesstha zuckte die Achseln. Seine Echsenhaut schimmerte wie ein Opal.

"S gibt'n paar Minen hier. Drüben, inner Einöde."

Er deutete mit einem seiner Daumen vage über die Schulter.

"Und sonst?"

Die Frau schob alle Essensreste auf den Teller des Mannes.

"Trink auch was", sagte sie zu ihm.

"Was hater'n?" fragte der Gesstha interessiert.

"Und sonst?" fragte die Frau wieder und schob die Aulegmünze über die Theke. Der Gesstha griff danach und ließ sie blitzschnell in den Tiefen eines schmuddeligen Umhangs verschwinden

"Nix sonst. Auf der annern Seite sind die Berge. Aber da kannste jetzt nicht hin. Wenn hier der Regen einsetzt, fällt dort Schnee."

Die Frau seufzte und betrachtete ihren stummen Gefährten. Nur ein leises Knacken kündigte das Öffnen der Tür an, aber die Frau hechtete mit einem Satz hinter die Theke. Der Gesstha quiekte empört und wurde von dem Mann niedergerissen, der pflichtschuldig ebenfalls über die Theke sprang. Die Teller mit den Essensresten schlugen mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf. Stimmen schrien, Waffen wurden abgefeuert, Ladungen knallten in die Theke und fegten darüber hinweg. Die Frau zog das Molekulargewehr und auch der Gesstha hielt auf einmal eine Waffe in der Hand.

"Schluss, ihr Idioten, ihr werden ihn noch töten!" brüllte eine heisere, keuchende Stimme. Die Frau sprang hoch, feuerte das Gewehr ab und hechtete wieder hinter die Theke. Tumult setzte ein. Wesen rannte durch den Schankraum, stiegen über Tote und Verletzte. Die Frau robbte durch die Hintertüre, zerrte den Mann hinter sich her und rannte geduckt durch den Hinterausgang auf die Straße. Eine Ladung traf sie mit voller Wucht an der Schulter und riss sie fast von den Füßen. Sie warf sich hinter den Mann, benützte ihn als lebendes Schild und feuerte über seine Schulter hinweg. Die zwei Angreifer gingen mit lauten Schreien zu Boden. "Komm schon!" schrie sie, rannte über die Straße und verschwand im Gassengewirr. Nach einigen Minuten lehnte sie sich keuchend an eine Hauswand, hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter.

"Du scheinst ja mächtig wichtig zu sein, mein Freund", stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Blut sickerte durch ihre Finger und tropfte langsam auf den Asphalt. Sie lehnt den Kopf an die Wand. Schweiß stand auf ihrer bleichen Haut.

"Wichtig ist das falsche Wort", erwiderte eine heisere, keuchende Stimme. Schlurfend näherte sich der Humanoid, der so groß und breit wie ein Vellip war und einen Ganzkörperpanzer trug. Die Frau ging in die Knie und ließ das Molekulargewehr fallen.

"Keine schlechte Vorstellung, ungeteilter Lohn ist doppelter Lohn."

Er lachte, näherte sich völlig unbekümmert, blieb vor der Frau stehen und blickte aus seinem gepanzerten Helm auf sie herab. Dann schnellte seine Flexstahlfaust vor und griff die Frau an der Kehle, hob sie hoch wie einen Becher Klah, mühelos, ohne zu zittern. Die Frau begann zu würgen. Der Humanoid blickte zu dem Mann, checkte ihn suchend ab. Schließlich ließ er die Frau fallen, die sich auf dem Boden zusammenkrümmte.

"Steh auf" befahl er.

Sie kam zitternd auf die Füße, lehnte sich wieder gegen die Wand. Seine Faust schloss sich um ihre verletzte Schulter. Sie schrie heiser und schmerzgepeinigt auf. Die Faust des Humanoiden verfärbte sich rot von ihrem Blut. "Den Anhänger."

Sie nickte. Er ließ sie los, trat zwei Schritte zurück und wartete. Sie kramte mit der unverletzten Hand in ihren Taschen. Dann zog sie den Anhänger hervor und hielt ihn hoch.

"Ist es das, was ihr alle wollt?" stieß sie hervor.

Der Humanoid betrachtete sie bewegungslos, streckte dann eine Hand aus.

"Hast du ihn dir schon mal genauer angeschaut? Sieh ihn dir an, sieh her, komm, sieh genau her", murmelte die Frau heiser.

Der Anhänger begann zu schwingen, und als der Humanoid mit einem ärgerlichen Grunzen danach greifen wollte, blähte sich der Anhänger auf einmal auf, wuchs bläulichweiß, ein chitinöses, vielgliedriges Insektoid, das sich zwischen den Mann und die Frau und den Angreifer schob. Der vieläugige Kopf des Insekts wendete sich hierhin, dorthin, blieb schließlich an dem Humanoiden hängen. Die Mundwerkzeuge begannen sich zu bewegen, kauend und suchend, Geifer tropfte aus seinem Maul. Mit einem lauten Zirpen sprang es den Humanoiden an. Der schrie auf, wich zurück und zückte seine Waffen. "Hinlegen, Quecksilber!" schrie die Frau, griff sich mit einer flinken Bewegung ihr Molekulargewehr und feuerte durch das Insektoid hindurch auf den Humanoiden, hechtete zur Seite, schrie auf, als sie mit ihrer verletzten Schulter auf dem Boden aufprallte, feuerte wieder, immer auf das Steuergerät des Helmes. Der Humanoid verlor den Überblick, setzte sich verzweifelt gegen das Insektoid zur Wehr und schien die Frau gar nicht mehr zu bemerken. Die Frau kroch über den Boden, weiter weg von dem Mann, schoss mit unverminderter Heftigkeit. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen explodierte das Steuergerät und riss dem Humanoiden den Kopf ab. Schwer atmend setzte die Frau sich auf. Tränen strömten ihr über das Gesicht.

"Quecksilber, komm her", stieß sie halb ohnmächtig hervor, "und bring den Anhänger mit."

Er kam mit ruhigen Schritten, ging direkt auf das Insektoid zu, durch es hindurch, hielt inne, hob den Anhänger auf und kam zu ihr. Das Insektoid verblasste, zerfloss langsam, hing noch einige wenige Augenblicke in der Luft. Er schien es nicht zu bemerken.

"Hilf mir auf."

Er zog sie hoch und sie lehnte sich zitternd und schweißüberströmt an ihn. Dann steckte sie den Anhänger ein, schob das Molekulargewehr in den Hosenbund und holte tief und zittrig Atem.

"Gehen wir."

Sie stützte sich schwer auf seine Schulter und ging dann mit langsamen Schritten die Straße entlang. Das leichte Trappeln von Füßen ließ sie innehalten. Sie drehte sich um, die Nasenflügel vor Anstrengung gebläht. Es war der Gesstha in seinem schmuddeligen Umhang, zusammen mit einem stämmigen, bräunlichen Artgenossen.

"Na, fette Beute gemacht?" fragte die Frau und musterte die beiden unverwandt.

Der Wirt grinste.

"Brauchste was?"

"N Medcomp für meine Schulter."

Der Gesstha legte den Kopf in einer kindlich anmutenden Geste des Überlegens auf die Seite.

"Und?"

Er belauerte sie gierig.

"Dann werde ich dich nicht töten. So wie ihn."

Sie deutete mit dem Kinn auf den zweigeteilten Humanoiden in seinem Kampfpanzer. Der andere Gesstha zuckte zurück und verfärbte sich gelblich. Der Wirt nickte und zischelte dann zufrieden. Er nahm dem Toten die Waffen ab und nickte noch mal.

"Komm mit."

Nach einem schweigenden Marsch traten sie in einen düsteren Flur. Der braune Gesstha zischelte der elektronischen Tür etwas zu. Nach mehreren Sekunden glitt sie zurück und gab den Weg in einen hell erleuchteten, breiten und sehr sauberen Flur frei. Eine Frau kam ihnen entgegen, sie war klein und zierlich mit einem eisgrauen Schopf kurzer, dichter Haare, der um ihren Kopf wippte, im Rhythmus mit ihren energischen Schritten. Mit einem Blick schickte sie die zwei Gesstha fort, wollte auch den Mann wegschicken.

"Er bleibt. Immer. In meiner Nähe."

Die Ärztin sah die Frau kurz an, nickte dann zustimmend und öffnete eine Tür. In dem kleinen angenehm hellen und warmen Raum stand ein Medcomp, ein altes Modell, aber in tadellosem Zustand. Die Frau zog drei Aulegmünzen aus ihren Taschen und gab sie der Ärztin. Die akzeptierte schweigend. Langsam und mühsam zog sich die Frau aus. Das Molekulargewehr gab sie dem Mann.

"Wenn sie mich tötet oder verletzt, wenn sie den Medcomp überhaupt nur anfasst, so lange ich drin liege, dann erschießt du sie, klar?"

Der Mann starrte sie stumpf an.

"Setz dich, Quecksilber."

Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Medcomp und richtete das Gewehr auf die Ärztin. Die setzte sich ebenfalls und gab der Frau durch eine Handbewegung zu verstehen, dass der Medcomp bereit war. Die Frau legte sich mit einem Seufzer auf die Liege und schloss die Augen, noch bevor sich der Medcomp gänzlich über sie gestülpt hatte. Lange Zeit später glitt der Medcomp zurück und die Frau setzte sich auf. Ihre krankhafte Blässe war verschwunden, auch wenn sie noch müde und abgespannt wirkte. Die Schulterwunde war mit Synthaut versiegelt. Der Mann saß noch immer auf dem Stuhl, das Gewehr auf dem Schoß, aber die Ärztin war verschwunden.

"Entspann dich, Quecksilber. Geh aufs Klo, wenn du musst, oder was immer du willst."

Der Mann stand auf, das Gewehr fiel ihm achtlos aus dem Schoß auf den Boden. Er blickte sich zögernd um und trat dann durch eine der Türen. Dahinter verbarg sich tatsächlich eine Saneinheit.

"Wie einen Rob. Man aktiviert ihn und setzt ihn außer Betrieb", murmelte die Frau und zog sich langsam an. Als die Frau fertig angezogen war, öffnete sich die Tür und die Ärztin betrag den Raum. Sie musterte die Frau und schien mit dem Ergebnis des Medcomps zufrieden zu sein.

"Danke. Ich bin Anna", sagte die Frau und reichte der Ärztin die Hand.

"Shin'tay", erwiderte sie und schüttelte ihr die Hand.

"Anna, sei mein Gast heute Abend. Es gibt wenig Abwechslung hier."

Anna überlegte kurz und nickte dann. Hier war sie so sicher wie an jedem anderen Ort und eine warme Mahlzeit wollte sie nicht ausschlagen, wenn sie ihr angeboten wurde.

Shin'tay öffnete eine Tür.

"Hier entlang."

Anna sah sich nach dem Mann um.

"Wir müssen auf ihn warten."

Shin'tay akzeptierte schweigend und als Quecksilber aus der Saneinheit kam, gingen sie gemeinsam in den Nebenraum, ein freundliches Speisezimmer, vollgestopft mit einem Sammelsurium kurioser Dinge. Ein Servobot sirrte um den Tisch und entnahm seinem kugelförmigen Bauch mehrere Tabletts und Schüsseln.

"Setz dich hierhin, Quecksilber. Iss und trink was, soviel du möchtest. Nimm nur."

Anna drückte den Mann auf einen Stuhl und setzte sich an seine Seite. Sie beobachtete ihn kurz und als sie sah, dass er sich in seiner langsamen, bedächtigen Art Speisen auf den Teller häufte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Ärztin zu.

"Kannst du ihm helfen, Shin'tay?"

Anna hob ein hohes, geschliffenes Glas, das Shin'tay mit einer einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt hatte, um mit ihr anzustoßen. Das Licht brach sich glänzend und funkelnd darin.

Sie hatten beim Essen gesessen.

Und aus geschliffenen Gläsern getrunken.

Und gelacht. Gelächter.

Und da war er gewesen, mit seinen schwarzen Haaren, so kurz, dass sein Kopf wie angemalt aussah, und seinen bunten Ohrringen, und sie starrte in seinen Hemdausschnitt und dann in seine grünen Augen und dann streckte sie die Hand aus und berührte seine Brust, ließ ihre Finger in seinen Ausschnitt gleiten, über die harten, geschmeidigen Muskeln, und dann...

Mit einem Klirren zersprang das Glas auf dem Tisch, Scherben mischten sich mit Flüssigkeit, Bernstein und Glitzer, glitzernder Bernstein, und die Augen so grün, so grün, und sein Körper auf dem ihren, Haut an Haut und der Schweiß und ihre Schreie, und er brachte sie mit seinen Küssen zum Verstummen und er war in ihr und sie um ihn und ihr langes Haar fiel auf ihn nieder. Mit einem unterdrückten Aufschrei schloss Anna die Augen, presste die Lippen aufeinander, legte einen Handrücken gegen die Stirn. Sie riss sich sichtlich zusammen, öffnete die Augen und sah Shin'tay an.

"Tut mir leid, wegen dem Glas. Kannst du ihm helfen?"

Anna deutete auf Quecksilber.

Shin'tay beobachtete sie über den Rand ihres Glases hinweg, nahm einen Schluck, hielt das Glas mit beiden Händen, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Der Servo sauste um den Tisch, wischte Scherben und Flüssigkeit auf, stellte ein neues Glas auf den Tisch. Anna füllte es, hob es der Ärztin entgegen.

"Seit wann befindet er sich denn in diesem Zustand?"

Sie musterte Quecksilber eingehend.

"Ich weiß es nicht. Mindestens seit gestern Abend. So lange kenne ich ihn nämlich."

"Jemand hat an seinem Gehirn herumgepfuscht. Wenn du Glück hast, sind es nur ein paar Drogen, und die Wirkung lässt im Laufe der Zeit nach. Steck ihn mal in den Medcomp. Der weiß da mehr als ich. Ich bin Chirurgin."

Anna aß langsam und genießerisch. Sie hob wieder ihr Glas.

"Dann kannst du mir wohl auch nicht helfen."

"Nein. Ich kann dir nicht helfen", sagte Shin'tay leise und bedauernd. Anna lächelte sie plötzlich an, griff ihre Hand und drückte sie sanft.

"Du hast mir schon mehr geholfen, als ich erwarten konnte."

Shin'tay legte ihr Besteck zur Seite.

"Was brauchst du?"

Anna seufzte, sah hinüber zu dem Mann. Was zwang sie dazu, diesem stumpfsinnigen Idioten zu helfen? Warum konnte sie ihn nicht einfach auf die Straße werfen und sich mit ihren eigenen Problemen befassen? Verdammter Mist.

"Ich muss noch heute Nacht aufbrechen. Wir müssen in die Berge, das ist unsere einzige Chance. Ich brauche Ausrüstung."

"Kannst du bezahlen?"

Anna legte eines der Schmuckstücke auf den Tisch. Es war ein auffälliger Ring, ein breiter, grüner Metallstreifen, in den ein grobes, ungeschliffenes, milchig weißes Mineral gefasst war, das stumpf glänzte. Shin'tay zog eine Augenbraue hoch und griff nach dem Ring. Nachdenklich drehte sie ihn hin und her.

"Ein Synthkristall."

Anna nickte, nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas.

"Ich weiß nicht, was er gespeichert hat, aber selbst wenn er leer ist, ist er sehr wertvoll."

"Zu riskant."

Shin'tay schüttelte den Kopf und gab den Ring an Anna zurück.

"Komm schon, Shin'tay, das ist der letzte Dreckshaufen hier. Niemand schert sich einen Scheiß um Gesetze. Ich frage mich ernsthaft, warum du noch hier bist."

Shin'tay grinste.

"Na gut. Ich geb dir die Ausrüstung und ein bisschen Bares. Mehr kann ich nicht tun. Unter Umständen kann es Jahre dauern, bis ich den Kristall verkaufen kann."

"Meinetwegen."

Anna schob den Teller von sich und drehte sich nach dem Mann um.

"Und ihn legen wir unter den Medcomp, ok?"

Shin'tay zuckte die Achseln. Sie gingen zurück in das andere Zimmer, in dem der Medcomp stand. Quecksilber legte sich widerspruchslos unter den Medcomp und Anna legte sich in eine Ecke auf den Boden.

"Du kannst auch ein Bett haben", bot Shin'tay ihr an, aber Anna schüttelte den Kopf.

"Ich bleib bei ihm."

"Wie du meinst."

Shin'tay brachte ihr ein paar Decken und verschwand dann, um die Ausrüstung zu organisieren. Anna machte es sich in der Ecke bequem und schlief sofort ein. Nur das leise Summen des Medcomps füllte den Raum. Stunden später betrat Shin'tay wieder den Raum. Ein schwer beladener Servobot folgte ihr schnarrend und rumpelnd. Beim ersten Laut sprang Anna auf die Füße, die Hand auf dem Gewehr. Als sie sah, dass es nur die Ärztin war, entspannte sie sich, fuhr sich mit der Hand durch das Haar und gähnte ganz ungeniert.

"Die Ausrüstung. Keine Protektoren und anderer Schnickschnack. Dann kann euch zwar keiner orten, aber ich seid ruck zuck erfroren, wenn ihr nicht großes Glück habt. Bist du dir sicher, dass du es so willst?"

Anna nickte und fing an, die Ausrüstung auseinander zu sortieren. Sie zog sich sorgfältig an und öffnete dann den Medcomp, um nach Quecksilber zu sehen. Er sah erholt und entspannt aus, aber an seinem Zustand hatte sich nichts geändert. Anna seufzte resigniert und enttäuscht und befahl ihm, die bereitgelegten Kleider anzuziehen. Dann verteilte sie den Rest der Ausrüstung auf zwei Rucksäcke und griff nach dem gefütterten, wadenlangen Mantel.

"Ich bringe euch aus der Stadt, zum Fuß der Berge, wenn du willst", bot Shin'tay an. Anna nickte dankbar.

"Wohin wollt ihr bloß gehen? Dort in den Bergen ist nichts, absolut nichts. Nur Schnee und Eis."

Anna zuckte wieder mit den Schultern.

"Die Berge sind unsere einzige Möglichkeit, noch ein bisschen weiterzuleben."

Shin'tay beobachtete schweigend, wie Anna den Rest zusammenpackte, den Sitz von Quecksilbers Kleidung überprüfte und ihm einen Rucksack aushändigte.

"Gehen wir."

Da es nichts mehr zu sagen gab, gingen sie schweigend zum Geländewagen von Shin'tay, einem zerbeulten aber geräumigen Modell, das wie alle Besitztümer Shin'tays in ausgezeichnetem Zustand war. Sie warfen die Rucksäcke auf die Ladefläche und machten es sich im Innern bequem. Shin'tay fuhr zügig und sicher, und Anna starrte aus dem Fenster in die beginnende Morgendämmerung. Sie ließen die Stadt rasch hinter sich und fuhren durch den endlos fallenden Regen über eine graue, aufgeweichte Ebene. Vergilbtes Gras ertrank in den unbarmherzigen Fluten und vereinzelte Bäume reckten ihre blattlosen Arme verzweifelt zum grauen Himmel empor. Anna fröstelte unwillkürlich und kuschelte sich an Quecksilber, der wie immer unbeteiligt vor sich hin starrte. Nach mehreren Stunden Fahrt begann das Gelände leicht anzusteigen. Regen vermischte sich mit Schnee und Eis. Doch dann klarte der Himmel mit einmal auf und die Sonnenstrahlen verdrängten die letzten Wolken. Die funkelnden Regentropfen sahen aus wie verstreute Diamanten, und am Horizont erhob sich das Gebirgsmassiv in seiner atemberaubenden Ungeheuerlichkeit. Gipfel türmten sich auf Gipfel, schneebedeckt und in felsig-schroffe Hänge abfallend, von der Sonne rosig überhaucht vor einem strahlend blauen Himmel. Der Geländewagen näherte sich jetzt rasch dem Fuß der Berge. Vereinzelte Hügel erhoben sich vor ihnen, nur ein dumpfer Abglanz der Bergriesen, die vor ihnen aufwuchsen. Shin'tay stoppte den Wagen schließlich. "Hier endet die Straße."

Sie stiegen aus und während Anna in ihren langen Mantel schlüpfte und ihn fest gegen den schneidend kalten Wind verschloss, duckte Shin'tay sich im Windschatten des Wagens. Anna trat zu ihr und gab ihr einen Kuss. Dann zog sie die Handschuhe über, wickelte den Schal um das Gesicht und schulterte den Rucksack. Geduldig überprüfte sie, ob Quecksilber ausreichend gegen die Kälte geschützt war. Dann marschierte sie los, geradewegs auf die Bergkette zu. Quecksilber folgte ihr mit seinen kraftvollen, ruhigen Schritten.

Shin'tay stieg wieder in den Wagen, schaltete die Heizung ein und sah den beiden nach, bis sie die Kuppe des ersten Hügels erreicht hatten und dann dahinter verschwanden.

Langsam stapfte Anna durch den sachte fallenden Schnee, Schritt für Schritt näherte sie sich dem Gebirge. Die Kälte gefror ihren Atem zu kleinen Wölkchen und ließ ihre Lippen aufspringen. Sie seufzte und wischte mit dem Handschuhrücken die Schneebrille frei. Der Tag neigte sich dem Ende zu und hier war sie, inmitten eines eisigen Traumes gefangen. Ihre Augen musterten wachsam die Umgebung, während ihr Geist schlief, betäubt von der Monotonie der Wanderung. Dann atmete sie tief ein, schüttelte die Benommenheit ab und sah sich aufmerksam um.

Nach einer ganzen Weile schien sie gefunden zu haben, was sie gesucht hatte, und lenkte ihre Schritte zu einer kleinen Baumgruppe, die sich an einen Felsenhang drückte. Dort, zwischen Bäumen und Felswand vor Wetter und Blicken gleichermaßen geschützt, ließ sie ihre Ausrüstung in den Schnee fallen.

"Gib mir deinen Rucksack, Quecksilber", forderte sie den Mann auf, die Stimme rau nach all den Stunden des Schweigens. Sie packte das Zelt aus und nachdem sie es ein paar Sekunden verwirrt angestarrt hatte, so als entspräche es nicht ihren Vorstellungen, setzte sie die Haftpunkte ins Gehölz und an die Felsen. Dann löste sie den Verschluss und das Zelt entfaltete sich mit einem heimeligen Knistern. Seine Farbe passte sich automatisch der Umgebung an. Anna schnaubte zufrieden durch die Nase, schlug den Eingang auf und warf die Ausrüstung hinein.

"Na, komm schon."

Sie zerrte Quecksilber am Ärmel hinter sich her und verschloss das Zelt. Wenig später lagen sie beide in dem extra isolierten Innenzelt, das zu klein zum Stehen war. Ein zu groß geratener Schlafsack, mehr war es nicht, aber es hielt die Körperwärme hervorragend zurück. Anna hatte sich aus ihrer Kleidung ein Rückenpolster gerollt und lehnte nun entspannt an einer Zeltwand, eine kleine, glimmende Rolle Fetablätter zwischen den Fingern, an der sie ab und zu genüsslich zog. Langsam ließ sie den Rauch durch die Nase entweichen, die Augen halb geschlossen. Sie fixierte träge Quecksilber, der in seiner gewohnten Teilnahmslosigkeit ihr gegenüber an der anderen Zeltwand lag.

"Weißt du, diese Wanderung, sie erinnert mich an irgendetwas", sagte Anna und reichte ihm das Rauchzeug. Er griff danach und nahm einen tiefen Zug. Sie lachte amüsiert über diese unerwartete Reaktion, nahm das Rauchzeug wieder zurück und tat einen neuen Zug.

"Ich erinnere mich daran, dass ich geraucht habe. Ja. Aber nicht so'n Zeug. Richtigen Tabak, weißt du? Eine richtige Zigarette. Weißt du, was Zigaretten sind? Nein? Na, macht nichts. Ich war auch am Wandern. Ich bin immerzu gewandert, aber der Himmel war anders und die Bäume waren grün. Und Bäume waren das! So richtig groß und riesenhaft und von einem satten, dunklen Grün. Und wie sie geduftet haben!"

Sie atmete tief ein und lächelte.

"Und da waren die Berge und dann die Ebene und das Meer. Das Meer. Und die Sonne brannte mir ins Gesicht. Ja. Das weiß ich noch. Und dass ich alleine war. So wie jetzt. Und immerzu mit mir selbst geredet habe. Oder mit meinem HUND. Weißt du, was ein Hund ist? Nein? Na macht nichts, ich hab's auch vergessen."

Ihre Stimme hatte einen trostlosen Beiklang, und sie sagte eine ganze Weile nichts mehr, rauchte nur schweigend ihre Fetablätter, bot ihm ab und zu einen Zug an.

"Es waren gar keine Menschen mehr da. Sie waren alle verschwunden. Das Land war leer. Das Land war wüst."

Sie ließ den Kopf nach hinten gegen die Zeltwand kippen und schloss die Augen. So blieb sie liegen, bewegungslos, als ob sie plötzlich in tiefen Schlaf gefallen sei. Doch dann blähten ihre Nasenflügel sich, als sie heftig einatmete. Sie bebte leicht, wie von einem unterdrückten Schluchzen. Abrupt schlug sie die Augen auf und fixierte den Mann mit überraschend hartem Blick.

"Ich habe Angst. Du hast auch Angst, nicht wahr? Du musst doch Angst haben, wenn es dich noch gibt, irgendwo da drin."

Sie tippte sich an die Schläfe.

"Dort bist du und kannst nichts tun weil irgendjemand an deinem Hirn herumgepfuscht hat, du armes Schwein. Ist es nicht so?"

Sie griff unvermutet nach ihm, zog ihn dicht zu sich heran, eine Hand um seinen Nacken gelegt, starrte sie ihm ins Gesicht. Seine Pupillen zogen sich kaum merklich zusammen, dann wurde er blass und kippte mit einem gequälten Laut seitlich weg. Nachdenklich starrte die Frau auf ihn herab. Dann stupste sie ihn vorsichtig mit dem Fuß an. Als er keine Reaktion zeigte, kroch sie zu ihm hinüber, zerrte ihn in den Schlafsack und legte sich neben ihn, nahm ihn in die Arme, fuhr ihm mit den Fingern sanft durch das Haar und seufzte.

Langsam entspannte sich der Mann, schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig. Trotzdem schlief er nicht, das konnte sie spüren. Die Decken umgaben sie mit wohliger Wärme, und Anna blinzelte schläfrig in das Licht der kleinen Zeltlampe. Sie spürte eine große Traurigkeit in sich, mochte nicht schlafen, ließ ihre Gedanken treiben. Der Anhänger um Quecksilbers Hals warf das matte Licht in glänzenden Reflexen zurück. Er schimmerte golden, jetzt, in der Nacht. Mit den Fingerspitzen strich Anna vorsichtig darüber. Was mochte es mit dem Schmuckstück auf sich haben, dass Leben bedeutungslos wurden im Bestreben, in seinen Besitz zu gelangen? Sie schloss sanft ihre Hand um das Insekt. Ein kaum spürbares Kribbeln ging von dem Anhänger aus, erfüllte ihre Hand, kroch langsam ihren Arm hoch. Das Gefühl war keineswegs unangenehm, ehr erwartungsvoll, erregend. Anna runzelte die Stirn, starrte auf ihre Hand. Quecksilber begann sich unruhig zu bewegen und stöhnte. Sofort ließ sie den Anhänger wieder los und strich dem Mann sanft über die Stirn. Er bewegte sich noch ein paarmal und fiel dann in tiefen Schlaf, sein Atem ging leicht und ruhig. Anna machte es sich neben ihm bequem, nahm seine Hand in ihre, lehnte ihre Stirn an seine Schulter und wartete auf den Schlaf.

Irgendetwas weckte sie in der Nacht. Irritiert hob sie den Kopf, machte sich von den Decken und ihrem Bettgefährten frei, lauschte mit schiefgelegtem Kopf. Nichts. Sie legte die Stirn in Falten, lauschte wieder. Ein Gefühl von Gefahr erfüllte sie, ließ ihr keine Ruhe.

"Wach auf, Quecksilber, wir müssen weg hier."

Sie stieß ihm unsanft den Ellenbogen in die Rippen. Er war sofort wach, setzte sich auf und sah sie an.

"Los, schnell, zieh dich an", forderte sie ihn auf, die Stimme angespannt von der Dringlichkeit, die sie verspürte, während sie in ihre Kleidung schlüpfte. Dann kroch sie hektisch aus dem Innenzelt, schnürte ihre Stiefel, zog ihren Mantel an und fing an, den Rucksack zu packen. Der Mann kam wenige Augenblicke nach ihr zum Vorschein.

"Einpacken, los, los, los", trieb sie ihn an, warf sich den Rucksack über die Schulter, zurrte die Gurte zurecht, streifte die Handschuhe über. Er kam ihrer Aufforderung mit seiner üblichen Gleichgültigkeit nach, stand wenige Augenblicke später neben ihr draußen im Schnee. Der Himmel hatte sich zugezogen und warf den Schnee in Unmengen auf sie herab. Wind verwirbelte die Flocken. Es herrschte eine gespenstische Stille. Dann, in der Ferne, war das Dröhnen eines Gleiters zu hören, leise noch, aber ständig lauter werdend. Die Frau fluchte.

"Weg hier."

Mit einem letzten bedauernden Blick auf das Zelt wandte sie sich ab und stapfte durch den Schnee davon, immer hangaufwärts. Sie begann zu keuchen in dem Bemühen, so schnell wie möglich den Zeltplatz hinter sich zu lassen. Dann endlich erreichten sie die ersten zerklüfteten Felsen. Das Dröhnen des Gleiters erfüllte mittlerweile die Nacht, verschluckte alle anderen Geräusche. Anna zwängte sich zwischen ein paar Felsbrocken, zerrte Quecksilber mit sich, kauerte sich im Schutz von Schnee und Gestein zusammen. Lichtkegel strichen durch die Nacht, brachen sich gespenstisch in den tanzenden Flocken, warfen verzerrte, beängstigende Schatten. Anna sog scharf die Luft ein, kauerte sich noch tiefer hinter die Felsen, drückte Quecksilber tief in den Schnee. Der Gleiter flog mit übelkeitserregendem Lärm über sie hinweg. Annas Knochen vibrierten und ihre Ohren dröhnten. Sie hielt die Luft an, atmete dann heftig wieder aus. Der Gleiter flog eine neue Schleife, entfernte sich hangabwärts.

Mit einmal erhellte sich die Nacht und das Zeltlager ging in Flammen auf, explodierte in einem rotglühenden Feuerball. Anna schluchzte leise vor sich hin, starrte hasserfüllt auf den Feuerschein. Der Gleiter flog eine neue Runde, drehte dann ab und verschwand in der Dunkelheit.

"Was bin ich bloß für ein gottverdammter Idiot", schrie sie und schlug heftig nach dem Mann. Einmal, zweimal. Er bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal zusammen. Anna ließ die Hand wieder sinken, seufzte resigniert.

"Komm", sagte sie dann leise, stand auf und marschierte los, immer hangaufwärts. Sie sah sich nicht nach ihm um. Nach einer Weile hörte sie seine leisen knirschenden Schritte im frischgefallenen Schnee.

Der Morgen dämmerte klar und kalt, wischte die letzten Wolken vom Himmel und behauchte Schnee und Gestein mit einem göttlichen rosa Schimmer. Anna stapfte unbeirrt durch den Schnee, Schritt für Schritt, immer bergauf. Ihr Atem ging schwer nach all den Stunden. Ihre Schultern schmerzten unter der Last des Rucksacks.

Sie seufzte, blieb stehen, reckte sich und sah sich um. Die Morgensonne ließ sie blinzeln. Der Mann blieb ebenfalls stehen, mit hängenden Schultern. Er sah total erschöpft aus. Betroffen musterte Anna ihn. Sie hatte sich keinerlei Gedanken über seine physische Kondition gemacht und begann zu ahnen, wieviel Kraft es ihn kostete, ihr zu folgen und gegen das, was ihm angetan worden war, anzukämpfen. Anscheinend war er nicht in den Lage, irgendwelche Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. "Jetzt hör mir mal gut zu, Quecksilber."

Sie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.

"Wenn du irgendetwas brauchst oder möchtest, dann zupfe mich am Ärmel."

Sie sah ihm ins Gesicht, suchte nach einem Zeichen des Verständnisses.

"Das ist ein Befehl, hörst du?"

Ein Zittern durchlief ihn. Dann hob er die Hand und zupfte sie leicht am Ärmel. Anna seufzte und machte sich Vorwürfe, dass sie nicht schon früher an ihn gedacht hatte.

"Ist ok, tu, was immer es sein mag."

Er ließ den Rucksack von den Schultern in den Schnee gleiten, setzte sich darauf und fing an zu zittern. Die Trostlosigkeit, die er ausstrahlte, ging Anna ans Herz, also setzte sie ebenfalls ihren Rucksack ab und erkundete die nähere Umgebung. Bald fand sie eine Felsformation, die mit weit vorspringenden Gesteinsbrocken einen nach drei Seiten geschützten Unterschlupf bildete. Durch einen schmalen Spalt zwängte sie sich hinein. Es war nicht besonders groß, aber der Boden war schneefrei und trocken. Sie ging zu Quecksilber zurück, der immer noch auf seinem Rucksack saß und jetzt apathisch döste.

"Komm, es ist nicht weit."

Sie schulterte ihren Rucksack, griff mit der einen Hand nach seinem Rucksack und mit der anderen nach ihm. Vorsichtig führte sie ihn zu dem Unterschlupf und drängte ihn hinein. Mit allem, was sie noch an Kleidungsstücken hatte, machte sie es ihm in einer Ecke so bequem wie möglich. Keine Minute später war er eingeschlafen. Er musste total erschöpft gewesen sein.

Anna suchte Holz für ein Feuer zusammen und nach kurzer Zeit brannte es und verstrahlte angenehme Wärme, auch wenn es knisterte und fauchte, weil das Holz feucht war. Der Rauch zog durch den Spalt ab, und Anna verschwendete keinen Gedanken daran, ob ihn jemand sehen konnte. Ohne Feuer würden sie auf jeden Fall sterben.

Sie sichtete ihre Vorräte. Wenigstens hatte sie ihre Rucksäcke retten können. Shin'tay hatte sie gut eingedeckt, und sie konnten vielleicht ein oder zwei Wochen davon leben. Wenn sie nicht vorher erfroren. Oder wenn der Gleiter nicht wiederkam. Oder eines der Raubtiere, die es hier sicher gab. Oder ein Schneesturm. Oder eine Lawine. Oder, oder, oder. Nach einer Weile köchelte ein Eintopf über den Flammen und Annas Magen knurrte vernehmlich. Sie öffnete ein Päckchen mit Fladenbrot und buk es auf einem heißen Stein auf. Dann weckte sie Quecksilber.

"Komm, du musst was essen."

Verschlafen und desorientiert sah er zu ihr auf, dann folgte er ihr mit schleppenden Schritten zum Feuer. Sie füllte ihm reichlich Eintopf in seine Schüssel und reichte sie ihm, zusammen mit einem großen Stück Fladenbrot. Er begann langsam und bedächtig zu essen, aber sie konnte spüren, wie hungrig er war. Als er fertig war, füllte sie ihm seine Schüssel noch mal auf, erst dann nahm sie sich den Rest. Sie wischte den Topf mit etwas Brot sauber aus und füllte ihn dann vor dem Eingang mit Schnee. Als das Wasser kochte, warf sie ein paar Blätter hinein, und der Duft von Klah zog durch ihren Lagerplatz.

Nachdem sie beide fertig gegessen hatten, nahm sie ihm die Schüssel ab, drückte ihm stattdessen einen Becher mit Klah in die Hand, riss sie eine Packung mit Fruchtriegeln auf und reichte sie ihm.

"Iss, soviel du willst. Es hat keinen Sinn, wenn wir am Essen sparen, dann verlieren wir nur unsere Kraft. Wenn wir nichts mehr zu essen haben, dann haben wir eben nichts mehr. Bis dahin jedenfalls werden wir immer satt sein."

Mit zitternden Fingern nahm er sich einen Riegel. Etwas an dieser Geste drehte Anna das Herz um. Was hatten sie nur mit diesem Mann gemacht? Und vor allem wer? Und wieso? In diesem Augenblick sah er auf und als er ihren Gesichtsausdruck sah, verkrampften sich seine Wangenmuskeln. Da wusste sie plötzlich, dass er noch da war, irgendwo, und dass er ein stolzer Mann war. Sie stand auf und trat ins Freie, um dem Mann ein paar Augenblicke Zeit zu geben, seine inneren Kämpfe unbeobachtet auszufechten. Ihr Blick schweifte über das vor ihnen liegende Gebirge und sie wunderte sich über sich selbst, denn sie verspürte keine Angst, keine Verzweiflung, nur eine Sicherheit, einen Willen und eine Kraft weiterzumachen, auch ohne Hoffnung, ohne Aussicht auf Überleben.

So verbrachten sie ihre Tage, wanderten, bis Quecksilber erschöpft war, rasteten, schliefen eng aneinandergeschmiegt in irgendwelchen Unterschlüpfen, wanderten weiter, immer tiefer in das Gebirge hinein. Anna bot Quecksilber mehrmals täglich etwas zu essen an, und im Laufe der Tage gewann er sichtlich an Kraft. Eine gewisse Routine spielte sich ein, auch wenn die Bedingungen immer schlechter wurden. Es war viel zu kalt, um sich auszuziehen und zu waschen, geschweige denn, um die Kleidung zu waschen, und nach dem dritten Tag sehnte sich Anna so sehr nach einer warmen Dusche, dass ihr die Tränen in die Augen traten.

Es schneite fast jede Nacht, und je weiter sie aufstiegen, desto kälter wurde es. Anna wusste selbst nicht, was sie sich von dieser Wanderung erhoffte, warum sie sich so unerbittlich ihren Weg über Felsen und Schneeverwehungen suchte. Vielleicht, weil sie wusste, dass sie nicht zurück konnte, denn dort unten waren Wesen, die sie oder Quecksilber oder sie beide töten wollten. Und wohin sollte sie sonst gehen? Also blieb nur der Weg durch das Gebirge.

Und dann hatten sie nichts mehr zu essen, und vor ihnen und hinter ihnen und um sie herum türmte sich das Gebirge auf und auf, ohne Ende.

 

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Ich liebe es, neue Welten zu erschaffen, und hoffe, ihr hab genau so viel Freude daran, meine Bücher zu lesen, wie es mir Freude bereitet hat, sie zu schreiben.

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