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Glückssteine - Bergkristall: Die Klettertour

Eine komplette Geschichte aus dem Buch "Glückssteine" zum Reinlesen und Reinschnuppern! 
Auf einer Klettertour wird Christiana von einem Unwetter überrascht und trifft auf ihrer verzweifelten Suche nach Hilfe auf den dämonischen Alpay. Aber nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint.

BERGKRISTALL - DIE KLETTERTOUR

Christina hatte den Blick fest auf den Rücken ihrer Arbeitskollegen gerichtet, die schon ein ganzes Stück weiter vorne auf dem Wanderweg waren, der sich steil und unbarmherzig den Berg hinaufwand. Sie bemühte sich, mit dem Grüppchen Schritt zu halten, aber bereits jetzt war ihr klar, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen war, da sie in ihrem ganzen Leben noch nie eine Klettertour gemacht hatte. Sie konnte spüren, wie sich die ersten Blasen in den Bergschuhen bildeten, die sie extra für diesen Wochenendausflug gekauft hatte und die deshalb natürlich nicht eingelaufen waren. Auch der Rucksack drückte ihr unangenehm auf die Schultern, wahrscheinlich deshalb, weil sie viel zu viel eingepackt hatte. Aber sie war eben ein vorsichtiger Mensch.
Sie hatte sich so gefreut, als ihre Kollegen sie gefragt hatten, ob sie auch bei der Wandertour mitmachen wolle, und weil es das erste Mal war, dass ihre Kollegen ihr überhaupt Beachtung schenkten, die über einen flüchtigen Gruß oder ein freundliches Nicken hinausging, hatte sie natürlich sofort zugesagt. Sie wünschte sich so sehr, ebenfalls dazuzugehören und Freunde zu finden, aber das war viel schwerer, als sie sich das vorgestellt hatte. Sie hatte geglaubt, dass alles gut werden würde, wenn sie endlich frei war, wenn sie endlich ihre Freiheit wiedererlangt hatte, aber dann hatte sie feststellen müssen, dass das Leben ganz anders war, als sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatte.
Sie seufzte und blieb stehen. Der Berg türmte sich mächtig vor ihr auf und erschien ihr unbezwingbar und von ihren Kollegen, die sich lachend unterhielten und anscheinend mühelos den Wanderweg erklommen, hatte sie heute bisher nur die Rücken gesehen. Außerdem wusste sie, dass die Tour noch schwieriger werden würde, sie hatte sich die Route vorher gut im Internet angesehen, um wenigsten eine gewisse Vorstellung von dem zu bekommen, was sie erwartete. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie die Klettertour nicht bewältigen konnte. Vielleicht schaffte sie es irgendwie, denn sie war hartnäckig und stur, aber Spaß sah anders aus und ganz ehrlich, wem wollte sie eigentlich etwas beweisen? Vielleicht wäre es ihr gelungen, Teil der Gruppe zu werden, die ganz offensichtlich eine langjährige Freundschaft verband, wenn sie eine begnadete Sportlerin und Bergsteigerin wäre, aber das war sie nicht. Sie war sowas von normal, dass sie für andere einfach nur langweilig und uninteressant war. Die anderen konnten ja nicht wissen, dass diese Normalität für sie selbst ein großes Abenteuer war, denn niemand wusste von ihrer Vergangenheit.
Trotzdem war sie froh, dass sie mitgekommen war, denn die Landschaft war wirklich atemberaubend. Christiana ließ ihren den Blick über das weite Tal und die hohen Bergmassive schweifen und freute sich, dass sie diesen einzigartigen Ausblick erleben und genießen durfte. Aber als sie am Horizont einige dunkle Wolken entdeckte, die sich dort zusammenzogen, wurde ihr unwohl. Was, wenn das Wetter umschlug? Immerhin war Spätherbst, ein wundervoller, sonniger, goldener und ungewöhnlich warmer Spätherbst, aber hier in den Bergen war das Wetter extrem wechselhaft. Hatte sie jedenfalls gelesen, denn sie war noch nie zuvor in ihrem Leben in den Bergen gewesen.
Mittlerweile hatten ihre Kollegen bemerkt, dass sie zurückgefallen war, und waren stehengeblieben.
"Komm schon Christiana, du schaffst das!" riefen sie ihr aufmunternd zu und winkten lachend. Sie waren ja wirklich nett, aber das machte es auch nicht besser. Christina beschloss deshalb, auf ihr Baugefühl zu hören, das in ihrem Leben immer ein guter Ratgeber gewesen war.
"Habt ihr die Wolken gesehen? Ich glaube, das Wetter schlägt um!" rief sie zurück und deutete auf den Horizont.
"Ach was, die Wetter-App sagt, dass es heute den ganzen Tag schön bleibt!" wiegelte einer ihrer Kollegen ab und hielt demonstrativ sein Handy hoch.
Christina zögerte noch einen kleinen Augenblick, aber dann gab sie sich einen Ruck.
"Geht ihr nur weiter, ich geh zurück zur Unterkunft!" rief sie ihren Kollegen zu, die sich kurz anschauten und dann mit den Schultern zuckten.
"Findest du denn zurück?" fragte eine Kollegin und sah Christiana ein wenig besorgt an.
"Ja klar, ich habe eine Wanderkarte und mir den Weg gut gemerkt. Bisher sind wir ja praktisch immer geradeaus gegangen und auf diesem Weg geblieben."
"Sicher?" hakte ihre Kollegin nach, aber Christiana blieb bei ihrer Entscheidung.
"Sicher. Euch viel Spaß noch."
"Ok, dann bis heute Abend!"
Das Grüppchen winkte ihr noch einmal zu und machte sich dann wieder an den Aufstieg.
Die Erleichterung darüber, dass sie dem Klettersteig entkommen war, mischte sich mit Besorgnis angesichts der Wolken. Machte sie sich zu viele Gedanken? Ihre Kollegen machten schließlich nicht zum ersten Mal eine Klettertour und waren deshalb mit Sicherheit in der Lage, das Wetter richtig einzuschätzen. Dennoch blieb das ungute Gefühl. Christiana war sich sicher, dass die Wolken nichts Gutes verhießen, und machte sich deshalb umgehend an den Abstieg.
Bis zum Parkplatz, von dem aus sie gestartet waren und wo Christiana ihr Auto geparkt hatte, waren sie gut zwei Stunden unterwegs gewesen und da es auf dem Rückweg immer bergab ging, war sich Christiana sicher, dass sie es in deutlich kürzerer Zeit zurück zum Parkplatz schaffen konnte. Aufmerksam folgte sie den Markierungen des Wanderwegs, aber je länger sie ging, desto unsicherer wurde sie. Auf dem Hinweg war ihr alles so einfach erschienen, aber jetzt hatte sie Schwierigkeiten, die Wegmarkierungen überhaupt zu finden, und musste feststellen, dass es verschiedene Markierungen gab, deren Bedeutung sie überhaupt nicht kannte. Nach zweieinhalb Stunden war vom Parkplatz immer noch weit und breit nichts zu sehen und obwohl Christiana sich mit klopfendem Herzen und aufsteigender Panik umsah, konnte sie auch keine Gebäude oder befestigten Straßen entdecken.
Sie hatte sich tatsächlich verlaufen und war einen Augenblick lang den Tränen nahe, aber dann riss sie sich zusammen. Sie breitete die Wanderkarte auf dem Boden aus und beschwerte die Ecken mit Steinen, damit die Karte nicht vom Wind weggeweht wurde, der jetzt deutlich aufgefrischt hatte. Besorgt musterte Christiana den Horizont und schluckte schwer, als sie sah, welche Wolkenfront sich dort auftürmte, und das mit einer Schnelligkeit, die beängstigend war. Christiana atmete ein paar Mal tief durch, mahnte sich zur Ruhe und musterte die Wanderkarte. Leider half ihr das überhaupt nicht weiter, weil sie keine Verbindung zwischen der Karte und ihrer Umgebung herstellen konnte. Auf der Karte sah alles so einfach und übersichtlich aus, aber sie hatte wirklich keine Ahnung, wie sie erkennen sollte, wo sie sich befand. Vielleicht benötigte man zum Lesen einer Wanderkarte einen Kompass? Den sie natürlich nicht hatte. Aber immerhin hatte sie ihre wind- und regendichte, gefütterte Funktionsjacke in ihrem Rucksack, die sie eingepackt hatte, obwohl die anderen ihr versichert hatten, dass eine Winterjacke für einen Tagesausflug bei fast noch sommerlichen Temperaturen und strahlendem Sonnenschein wirklich nicht nötigt wäre. Jetzt war sie froh über die Jacke, da die Temperatur schlagartig gefallen war.
Wieder konnte sie die aufsteigende Panik spüren, denn sie hatte sich nicht nur auf einem so einfachen Abstieg verlaufen, ihre Kollegen befanden sich auch auf dem Klettersteig und waren dem Wetterumschwung ungeschützt ausgesetzt. Sie musste unbedingt von diesem Berg herunterfinden und die Bergwacht informieren.
Sie musterte noch einmal aufmerksam die Wanderkarte. Komm schon, konzentrier dich! ermahnte sie sich, und dann schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn, weil ihre einfiel, dass sie ja ein Handy hatte. Das würde ihr ihren Standort anzeigen! Sie zog ihr Handy aus der Tasche, das zwar einen vollen Akku hatte, dafür aber kein Netz. Frustriert starrte Christiana ihr Handy an. GPS funktionierte nicht, aber vielleicht funktionierte ja die Kompass-App ohne Internet? Aufgeregt öffnete sie die App und als sie sah, dass die Kompass-App tatsächlich funktionierte, wurde ihr vor Erleichterung fast schwindelig. Auf der Wanderkarte grenzte Christiana das Gebiet ein, in dem sie sich ungefähr befinden musste, und konnte dann mithilfe des Kompasses ein paar Landmarkierungen ausmachen und so ihre Position zumindest näherungsweise ermitteln. Sie war komplett vom Wanderweg abgekommen und hatte nicht einmal bemerkt, dass der Weg irgendwo im Nirgendwo verschwunden war und sie einem Trampelpfad oder Wildwechsel gefolgt war. Ein Stück weiter bergab war die asphaltierte Bergstraße, auf der sie mit ihren Kollegen hinauf zum Parkplatz gefahren war und die sie von ihrem Standort aus nicht sehen konnte, weil sie hinter der Waldgrenze lag. Aber wenn sie mithilfe des Kompasses immer westlich ging, konnte sie die Straße gar nicht verfehlen. Und dort konnte sie ein Auto anhalten oder wenn kein Auto vorbeikam, zu Fuß bis zu dem Parkplatz laufen, auf dem ihr Auto stand und der ungefähr drei oder vier Kilometer entfernt war.
Von neuer Zuversicht erfüllt faltete Christiana ihre Wanderkarte wieder zusammen und als sie die Steine zur Seite schob, mit denen sie die Ecken beschwert hatte, starrte sie überrascht auf einen funkelnden und glitzernden Kristall. Es musste ein Bergkristall sein, aber er war von einer unglaublichen Reinheit und enthielt einige Einschlüsse, die in wundervollen Lilatönen schimmerten. Verwundet hob Christiana den Stein auf und betrachtete ihn fasziniert. Er war nicht sehr groß und hatte die unregelmäßige Form eines Bergkristalls, aber er war von einer so großen Schönheit, dass Christiana ihn für einen Diamanten gehalten hätte, hätte sie nicht gewusst, dass es hier in den Bergen keine Diamanten gab und dass Diamanten generell nicht einfach auf dem Boden herumlagen. Sie umschloss den Stein fest mit ihrer Hand und schloss einen Augenblick lang die Augen, um dem Universum für dieses schöne Geschenk zu danken. Sie dankte dem Universum und nicht Gott, denn sie war sich sicher, dass es keinen Gott gab. Zumindest nicht den Gott, von dem die Menschen predigten.
Mit einem Seufzer schob sie den Stein in ihre Jackentasche und rief sich dann zur Ordnung. Jetzt war mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, ob es einen Gott gab oder nicht, weil die Antwort auf diese Frage irrelevant war, denn sollte es ihn wider allen besseren Wissens doch geben, war es ihm ganz offensichtlich egal, welche Verbrechen die Menschen in seinem Namen auf der Erde begingen, und ganz bestimmt würde er ihre Kollegen auf dem Klettersteig nicht retten. Das konnte nur Christiana tun, oder besser gesagt die Bergwacht, die sie unbedingt informieren musste.
Also schulterte sie wieder ihren Rucksack und machte sich an den Abstieg. Sie musste ein gutes Stück den Wald durchqueren, aber das war weitaus weniger schlimm, als sie befürchtet hatte, da der Wald in dieser Höhe relativ dünn war, und so kam sie mithilfe ihres Kompasses gut voran.
Bis das Wetter umschlug.
Der Himmel verdunkelte sich fast schlagartig und dann ertönte ein krachender Donnerschlag, der so laut war, dass Christiana vor Schreck zu Boden sank, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen. Während sie sich noch mit klopfendem Herzen von ihrem Schreck erholte und überlegte, was sie jetzt tun sollte, öffnet der Himmel seine Schleusen und ein Regen prasselte auf Christiana herunter, der so dicht war, dass sie kurz das Gefühl hatte, sich unter Wasser zu befinden. Hektisch versuchte sie, ihr Handy in Sicherheit zu bringen, aber es war schon zu spät, der Regen hatte ihr Handy innerhalb von wenigen Sekunden komplett durchnässt und das Display wurde schwarz. Entsetzt starrte Christiana auf ihr totes Handy und schob es dann schnell in eine Jackentasche, während sie wieder aufstand und sich verloren umblickte. Woher war sie gekommen? In welche Richtung war sie gegangen? In dem strömenden Regen und dem schwachen Tageslicht, das die Unwetterwolken durchließen, konnte Christiana praktisch nichts erkennen. Und dann wurde aus dem Regen Eisregen und plötzlich begann es heftig zu schneien.
Christiana stieß einen entsetzten Schrei aus und schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Kollegen! Sie musste unbedingt aus dem Wald herausfinden und Hilfe holen! Also nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ging weiter, immer bergab, denn die Straße lag ja talwärts. Ihr Atem gefror in dichten weißen Wolken und Christiana fror trotz ihrer Winterjacke. Sie wollte gar nicht daran denken, wie es ihren Kollegen auf dem Klettersteig erging!
Schnee und Eisregen wechselten sich ab und Christiana kam immer wieder ins Rutschen, aber sie ging verbissen weiter. Wie lange dauerte dieses Unwetter jetzt schon an? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Und weil sie sich an irgendetwas festhalten musste, um nicht die Hoffnung zu verlieren, umfasste sie fest den Kristall in ihrer Jackentasche.
Bitte, bitte, bitte, murmelte sie vor sich hin, während sie sich durch Eisregen, Schnee und Sturm weiter vorankämpfte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, um was sie bat und an wen sie ihre Bitte richtete. Sie wusste nicht, ob es ein Zufall war, oder ob irgendjemand oder irgendetwas ihre Bitte erhört hatte, aber plötzlich sah sie ein Licht durch die Bäume schimmern. Mit neuer Kraft kämpfte sich Christiana weiter voran und stand schließlich auf einer Lichtung vor einem kleinen Haus, in dem Licht brannte. Erleichterung schwappte über sie hinweg und sie stürzte zur Tür, gegen die sie wild hämmerte und dabei laut um Hilfe rief.
Ihre Erleichterung darüber, dass die Tür fast augenblicklich geöffnet wurde, schlug in Entsetzen um, als sie sah, wer die Tür geöffnet hatte. Das musste der Teufel sein! Diese Erkenntnis durchfuhr Christiana wie ein Blitzschlag, als sie den Mann erblickte, der in der Tür stand. Er war nicht nur sehr groß und kräftig und über und über mit Tattoos bedeckt, was für sich schon angsteinflößend war, nein, was Christiana davon überzeugte, dass er der Teufel sein musste, der sie schließlich gefunden hatte und für ihre Sünden bestrafen würde, waren seine komplett schwarzen Augen, die auf Christiana wie Löcher wirkten, durch die sie direkt in die Hölle blicken konnte. Ihr Verstand setzte komplett aus und mit einem Aufschrei drehte sie sich um und rannte davon, so schnell sie nur konnte. Aber der Boden war rutschig und glatt und da sie in ihrer Panik gar nicht darauf achtete, wohin sie die Füße setzte, stürzte sie schon nach wenigen Metern und kam schwer atmend zum Liegen, nachdem sie noch ein paar Meter den Hang hinuntergerutscht war.
Sie fing an zu weinen, sie konnte einfach nicht anders, zu tief war die Angst vor dem Teufel, der Hölle und der Bestrafung für Ungehorsam in ihrer Seele verwurzelt, noch immer, auch nach all der Zeit, in der sie sich darum bemühte hatte, diese Erinnerungen auszulöschen.
Plötzlich ergriffen zwei starke Hände sie und zogen sie vorsichtig auf die Beine.
"Um Gottes Willen, Mädchen, was machst du denn?" fragte eine freundliche, tiefe Stimme. Christiana nahm all ihren Mut zusammen und hob den Blick, um den Mann anzusehen. Er hatte immer noch die schwarzen Dämonenaugen, das hatte sie sich nicht eingebildet, aber der Teufel würde wohl kaum den Namen Gottes in den Mund nehmen, oder? Trotzdem hatte Christianas Entsetzen kaum nachgelassen, vielleicht weil sie in den vergangenen Jahren immer mit der stillen Angst vor der Bestrafung gelebt hatte.
"Bist du der Teufel?", fragte sie mit dünner Stimme und wurde von einem Zittern erfasst, das nicht nur von der Kälte kam, die ihr in alle Knochen gekrochen war.
"Nein, Mädchen, mein Name ist Alpay und ich versichere dir, dass ich ein Mensch bin. Und jetzt komm rein, das ist kein Wetter, um draußen zu sein. Was machst du überhaupt hier mitten im Wald? Hast du auch einen Namen?"
Widerstandslos ließ sich Christiana von dem Mann ins Haus bugsieren.
"Christiana", flüsterte sie dann.
"Christiana? Die Christin?"
Abrupt blieb Christiana stehen und starrte den Mann an, von einer kalten Wut erfüllt.
"Ich bin keine Christin!" stellte sie mit ungeahnter Vehemenz klar.
"Was bist du dann, Christiana?" fragte der Mann mit Namen Alpay sie und sie konnte sehen, dass sich in seinen Mundwinkeln ein leises Lächeln abzeichnete, was ihn auf einmal ganz menschlich aussehen ließ.
"Gottlos, ich bin gottlos", erwiderte Christiana und erschrak selbst, als sie hörte, wie trostlos ihre Stimme klang.
"Für eine gottlose Frau hast du aber ganz schön viel Angst vor dem Teufel", kommentierte der Mann ungerührt ihre Aussage, nahm ihr dann den Rucksack ab und half ihr aus der komplett durchnässten Jacke.
"Komm rein, ich habe den Kaminofen eingeheizt, drinnen ist es schön warm."
Er öffnete die Tür, die von der kleinen Eingangsdiele aus in den Wohnraum führte, und winkte einladend. Christiana fasste sich ein Herz und folgte ihm. Wenn er der Teufel war, konnte sie sowieso nichts mehr an ihrer Situation ändern, und ihr war schrecklich kalt. Und außerdem musste sie etwas unglaublich Wichtiges tun. Der Schreck, den der Anblick des Mannes bei ihr ausgelöst hatte, hatte dazu geführt, dass sie kurzfristig alles andere vergessen hatte, aber jetzt fiel es ihr wieder siedend heiß ein.
"Meine Kollegen!" rief sie aus und packte den Mann am Arm, "sie sind noch auf dem Klettersteig!"
Der Mann, der gerade Holz nachgelegt hatte, blickte überrascht auf.
"Ok, beruhige dich, Christiana. Setz dich erst einmal. Hier. In diesen Sessel vor dem Ofen."
Christiana ließ sich in den Sessel sinken und fing an zu weinen. Waren ihre Kollegen überhaupt noch zu retten?
Der Mann wickelte sie in eine warme Decke, kniete sich vor ihr auf den Boden und griff nach ihrer Hand.
"Nur die Ruhe bewahren Christiana. Erzähle mir alles, dann werden wir schon eine Möglichkeit finden, ihnen zu helfen."
Christiana war so aufgeregt, dass die ganze Geschichte aus ihr heraussprudelte und sie sich mehrmals verhaspelte, aber Alpay fragte nach, bis er sich einen Überblick über die Situation verschafft hatte. Er holte die Wanderkarte aus Christianas Rucksack und ihr Handy aus der Jackentasche. Die Wanderkarte breitete er auf dem Tisch aus und das Hand steckte er in eine Tüte Reis.
"Zeig mir auf der Wanderkarte, wo du deine Kollegen zuletzt gesehen hast und wo sie hin wollten. Um wieviel Uhr war das?"
Christiana wischte sich die Tränen ab, zog die Nase hoch und trat zu Alpay an den Tisch.
"Hier. Das war am späten Vormittag. Ich wollte zurück zum Parkplatz, der ist hier. Aber ich habe mich verlaufen."
"Es kann gut sein, dass deine Kollegen gar nicht bis zum Kletterstieg weitergegangen sind, sondern wegen des Wetters ebenfalls umgekehrt sind. In welcher Pension seid ihr denn untergebracht?"
Christiana nannte ihm den Namen und wurde selbst ruhiger, weil Alpay so besonnen und ruhig wirkte. Hatte sie ihn wirklich für den Teufel gehalten? Bei dem Gedanken schämte sie sich und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.
Alpay hatte in der Zwischenzeit ein altmodisches Telefon geholt, das auf einer Kommode an der Wand gestanden hatte und noch eine Wählscheibe und ein langes Kabel besaß. Als er Christianas Blick bemerkte, lächelte er wieder.
"Hier gibt es keinen Handyempfang. Ich habe deshalb das alte Festnetztelefon von meiner Oma behalten. Zum Glück. Ich mach jetzt mal ein paar Anrufe, setz du dich wieder in den Sessel und wärm dich auf."
Christiana ließ sich wieder in den Sessel sinken und musterte Alpay nachdenklich. Wie konnte ein Mann, der so furchterregend aussah wie Alpay, so nett und freundlich sein?
Sie hörte, wie er die Pension anrief, aber leider waren ihre Kollegen nicht zurückgekehrt. Also rief er die Bergwacht an, der er die Lage sehr sachlich und präzise schilderte. Schließlich gab er die Namen der vermissten Kollegen durch, nannte noch seinen Namen und seine Adresse und versicherte, dass Christiana bei ihm bleiben würde, bis das Unwetter vorbei war. Dann legte er auf und kam zurück zu Christiana.
"Und jetzt?" fragte Christiana und sah ihn erwartungsvoll an.
"Jetzt müssen wir warten. Die Bergwacht kann sich erst auf die Suche nach ihnen machen, wenn das Wetter wieder gut genug ist, um mit dem Helikopter zu fliegen. Und du ziehst dir am besten etwas Trockenes an, ich hab noch ein paar Sachen von den Jungs hier, die könnten dir passen."
Er verschwand im Nebenraum und Christiana konnte hören, wie er die knarrende alte Holztreppe nach oben stieg. Kurz darauf kam er zurück und reichte Christiana eine Jogginghose, einen Sweater und ein paar dicke Strümpfe, die sie dankbar annahm.
"Das Bad ist die zweite Tür rechts."
In der Tür blieb Christiana stehen und drehte sich zu Alpay um.
"Danke", murmelte sie verlegen.
"Mach ich doch gerne", beruhigte Alpay sie und nickte ihr aufmunternd zu.

Als Christiana in der warmen, trockenen Kleidung ins Wohnzimmer zurückging, fühlte sie sich deutlich besser. Sie hatte sich ihre kurzen blonden Haare mit einem Handtuch trocken gerubbelt und war einmal mehr froh über ihre Entscheidung, ihre Haare abzuschneiden. Das war eines der ersten Dinge gewesen, die sie getan hatte, nachdem ihr die Flucht gelungen war. Alte Zöpfe mussten fallen und sie hatte es kaum erwarten können, ihre Haare loszuwerden, denn damit waren zu viele schlechte Erinnerungen verbunden. Alle Mädchen und Frauen durften ihre Haare nicht abschneiden und mussten sie zu einem sittsamen Zopf geflochten tragen. Schrecklich. Christiana fröstelte und sie schob die aufsteigenden Erinnerungen weg. Das war lange her und gehörte alles längst der Vergangenheit an.
Sie fand Alpay in der kleinen Küche, wo er in einem Topf rührte.
"Und, besser?" fragte er und lächelte sie wieder an. Christiana fand es immer noch ein wenig gruselig, einen Dämonen lächeln zu sehen, aber langsam gewöhnte sie sich daran.
"Ja, besser", erwiderte sie und lächelte zurück.
"Ich dachte, ich mache uns eine warme Suppe auf diesen Schreck."
"Das ist fantastisch, danke. Jetzt wo du es sagst, merke ich erst, wie hungrig ich bin."
Christiana half Alpay dabei, den kleinen Küchentisch zu decken und das Brot aufzuschneiden. Dann setzte sie sich zusammen mit Alpay an den Tisch. Es war ein seltsames Gefühl, wieder mit einem Mann an einem Tisch zu sitzen, und es machte Christiana ein bisschen Angst.
"Nur zu, greif zu", forderte Alpay sie auf und deutete auf den Suppentopf, der auf dem Tisch stand. Also fasste Christiana sich ein Herz und füllte ihre Suppenschale. Dass sie sich zuerst Suppe nehmen durfte, war fast noch seltsamer, als mit Alpay hier an einem Tisch zu sitzen. Die Mädchen und Frauen hatten sich immer erst dann etwas zu Essen nehmen dürfen, wenn sich die Männer alle reichlich bedient hatten. Um sich von ihren Erinnerungen abzulenken, die so ungewollt an die Oberfläche stiegen, fragte sie Alpay:
"Kannst du mit diesen Augen überhaupt richtig sehen?"
"Ja, das kann ich. Und das ist das größte Geschenk, das ich erhalten habe, denn nicht selten führt es zur Blindheit."
"Ist das eine Krankheit?"
Neugierig musterte Christiana Alpays pechschwarze Augen.
"Nein, ich habe sie tätowieren lassen."
"Was?" entfuhr es Christiana und sie starrte ihn entsetzt und ungläubig an.
"Warum um alles in der Welt solltest du so etwas wollen oder tun?"
"Das war zu einer anderen Zeit und in einem anderen Leben."
"So wie die anderen Tätowierungen auch?" fragte Christiana und deutete mit dem Suppenlöffel auf die Arme und den Hals von Alpay, die komplett mit Tattoos bedeckt waren, von denen viele blutrünstige, schauerliche oder für Christiana völlig unverständliche Motive zeigten. Nur sein Gesicht war frei von Tätowierungen, was seine schwarzen Augen umso beängstigender wirken ließ.
"Kannst du das nicht wegmachen lassen?"
"Die Augentätowierungen nicht. Und die anderen Tätowierungen will ich nicht weglasern lassen."
"Warum nicht? Gefallen sie dir?"
"Nein, aber sie erinnern mich jeden Tag daran, was für ein Mann ich einmal war. So will ich nie wieder werden. Erinnerungen kann man nicht auslöschen und man kann ihnen auch nicht entkommen. Aber man kann daraus lernen."
Verblüfft starrte Christiana Alpay an. So viel Tiefsinn hatte sie nicht erwartet.
"Aber das weißt du ja selber, nicht wahr Christiana? Du hast vielleicht keine äußeren Tätowierungen, aber dafür Narben auf deiner Seele, die dich an deine Vergangenheit erinnern, das kann ich sehen und fühlen."
"Ja, das stimmt", erwiderte Christiana und fühlte sich zum ersten Mal frei, das auch zuzugeben. Ein Mann, der wie Alpay aussah, wusste etwas von schlimmen Erinnerungen und inneren Dämonen.

Nach dem Essen schlief Christiana in dem großen Sessel vor dem Kaminofen, erschöpft von ihrem Abenteuer, bis Alpay sie weckte.
"Die Bergwacht ist losgeflogen. Sie geben uns Bescheid, wenn sie deine Kollegen gefunden haben."
"Falls sie sie überhaupt finden", murmelte Christiana und rieb sich die Augen. Sie war immer noch müde und völlig erschöpft.
"Es wird schon alles gut gegangen sein, mach dir nicht zu viele Sorgen. Sie sind ja nicht alleine", beruhigte Alpay sie.
"Ich habe ihnen gesagt, dass schlechtes Wetter aufzieht, aber sie wollten nicht umkehren. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich sie nicht überzeugen konnte. Sie haben nicht einmal anständige Jacken dabei."
Christiana fühlte sich schrecklich und begann nervös an ihren Fingernägeln zu knabbern.
"He, du hast es versucht. Du bist nicht für die Entscheidungen anderer Personen verantwortlich."
Alpay fuhr ihr sanft und beruhigend mit den Fingern über die Wange und ohne dass sie es wollte, legte Christiana ihre Wange in seine Handfläche. Das war ein überraschend tröstliches und beruhigendes Gefühl. Christiana hatte noch nie in ihrem Leben einen Mann berührt, jedenfalls nicht so. Sie arbeitete als Pflegerin in einem Heim für Demenzkranke und fasste deshalb natürlich ständig Menschen an, Männer wie Frauen, wenn sie sich um sie kümmerte, sie duschte, wusch und anzog. Aber das hier, das war etwas ganz anderes. Bei ihr zu Hause war Keuschheit bis zur Ehe eines der obersten Gebote gewesen, das mit erbarmungsloser Strenge überwacht wurde. Und seit sie ihr Elternhaus und ihre Gemeinde verlassen hatte, war sie viel zu sehr damit beschäftigt, sich in der so genannten Normalität zurechtzufinden, um Gedanken an eine Beziehung mit einem Mann zu verschwenden. Außerdem hatte sie nach wie vor Angst vor Männern, auch wenn sie das nach außen hin gut hinter ihrem freundlichen und zuvorkommenden Wesen verbarg.
Bevor die Situation peinlich werden konnte, klingelte das Telefon und Alpay entzog ihr vorsichtig seine Hand, nachdem er ihr einen federleichten Kuss auf die Haare gedrückt hatte, um ans Telefon zu gehen. Es war die Bergwacht, die gute Neuigkeiten hatte. Sie hatten die Gruppe am Fuß des Klettersteigs gefunden. Zum Glück war es den beiden Frauen und den drei Männern noch gelungen, den Klettersteig hinunterzusteigen, bevor das Unwetter sie mit voller Wucht traf. Nur einer der Männer war gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen, aber allen ging es den Umständen entsprechend gut. Sie hatten in einer Felsnische Schutz gesucht und sich gegenseitig gewärmt und waren mit einer Unterkühlung und einem großen Schrecken davon gekommen.
Christiana fiel eine große Last vom Herzen.
"Ich bin so froh, dass ihnen nichts passiert ist", murmelte sie immer wieder und konnte es kaum fassen, dass das Abenteuer so glimpflich ausgegangen war.
"Möchtest du noch einen Kaffee oder soll ich dich gleich zum Parkplatz fahren?" fragte Alpay und hielt ihr eine Hand hin, die Christiana ohne nachzudenken ergriff, um sich von ihm hochziehen zu lassen.
"Ich nehme gerne einen Kaffee, danke", stimmte sie zu, nicht nur, weil sie ihre Müdigkeit vertreiben wollte, denn sie hatte vor, zur Pension und von dort aus direkt nach Hause zu fahren, da ihr jede Lust auf eine weitere Wanderung oder Klettertour nach dem heutigen Erlebnis gründlich vergangen war. Sondern auch deshalb, weil sich etwas in ihr dagegen sträubte, Alpay zu verlassen. Das war vollkommen irrational und Christiana wusste, dass der Grund dafür der Schockzustand war, in dem sie sich in den vergangenen Stunden befunden hatte, aber das Gefühl wollte einfach nicht verschwinden. Also würde sie die unweigerliche Trennung noch ein wenig hinausschieben und einen Kaffee mit diesem seltsamen Mann trinken.
Christiana setzte sich wieder an den kleinen Küchentisch, während Alpay den Kaffee aufgoss, ganz altmodisch mit einem leicht angeschlagenen Porzellanfilter, den er auf eine nicht weniger altmodische Porzellankanne setzte und mit Kaffeepulver füllte, das er dann mit kochendem Wasser aus einem emaillierten Kessel übergoss. Dieses kleine Ritual hatte etwas Behagliches und Vertrautes, das Christiana mit einer tiefen Sehnsucht und mit Wehmut erfüllte, denn ihr wurde klar, dass bestimmte Dinge in ihrem Leben für sie vermutlich immer unerreichbar bleiben würden, so sehr sie sich auch bemühte, Teil der Gesellschaft und der Normalität zu sein.
Alpay füllte zwei Kaffeebecher mit Kaffee, stellte sie zusammen mit Milch und Zucker auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Christiana.
"Seid ihr befreundet, du und deine Kollegen?" fragte Alpay und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte, denn seine pechschwarzen Dämonenaugen machten es unmöglich zu erkennen, was er dachte oder fühlte.
"Nein. Ehrlich gesagt habe ich keine Freunde."
Alpay nickte einmal kurz.
"Gut", sagte er dann mit einer Überzeugung, die Christiana überraschte.
"Wieso findest du es gut, dass ich keine Freunde habe?"
Christiana sah Alpay neugierig an und wusste auch nicht, warum sie sich traute, ihm alle diese Fragen zu stellen, zu denen ihr sonst der Mut fehlte.
"Nein, das habe ich nicht gemeint. Es ist gut, dass du nicht glaubst, dass sie deine Freunde sind", korrigierte er sich und nahm einen Schluck Kaffee.
"Und warum?"
"Die Bergwacht hat mir gesagt, dass sie nicht nach dir gefragt haben, keiner von ihnen. Erst als einer von der Bergwacht ihnen gesagt hat, dass sie die ganze Rettungsaktion dir zu verdanken haben, ist ihnen überhaupt erst wieder eingefallen, dass du ja auch zur Gruppe gehört hast."
Christiana zuckte mit den Schultern.
"Das wundert mich nicht, ich bin so uninteressant, dass mich die meisten Menschen sofort wieder vergessen, wenn sie mich nicht mehr sehen."
"Ich werde dich bestimmt nicht vergessen, Christiana", entgegnet Alpay und fuhr ihr noch einmal federleicht mit den Fingerspitzen über die Wange.
Nach dem Kaffee brachte er sie zum Parkplatz, auf dem ihr Auto stand.
"Kommst du mit dem Schnee zurecht?" fragte er noch, da nach wie vor alles von einer dünnen Schneedecke bedeckt war. Christiana nickte.
"Ich hab Winterreifen, das schaffe ich schon."
Und dann war es so weit.
Sie musste sich von ihm verabschieden.
Was sagte man zum Abschied?
"Leb wohl, Alpay", sagte sie schließlich und ihr Herz wurde ihr schwer.
"Hab eine gute Zeit, Christiana", erwiderte er.
Und dann war er weg.
Und sie war wieder alleine.

Am nächsten Montag nahm Christiana ihre Alltagsroutine wieder auf. Sie liebte ihre Arbeit nicht nur, weil sie ihrem Leben einen soliden und stabilen Rahmen und die Möglichkeit gab, für sich selbst zu sorgen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren, sondern auch, weil diese alten, dementen Leute, die immer weiter im Vergessen versanken, irgendwie ihr Herz rührten. Der Umgang mit ihnen war alles andere als einfach, aber ihre Arbeit fiel Christiana trotzdem nicht schwer und sie behandelte alle Gäste, wie die Demenzkranken hier genannt wurden, obwohl sie zu ihrem eigenen Schutz eigentlich Gefangene waren, mit großer Freundlichkeit.
Mit Ausnahme des Kollegen, der sich das Bein gebrochen hatte, kamen alle anderen am Montag wieder zur Arbeit und jeder von ihnen bedankte sich bei Christiana. Der Umgangston blieb freundlich, aber nach dem Wochenende wahrte Christiana wieder die gewohnte Distanz. Zwar ging sie hin und wieder mit der ein oder anderen Kollegin einen Kaffee trinken, aber jede weitere Einladung lehnte sie dankend ab. So wurden Tage zu Wochen und der Winter hielt mit Kälte, Matsch und Dunkelheit Einzug, aber Christiana konnte den rätselhaften Alpay nicht vergessen und sie fragte sich oft, was wohl aus ihm geworden sein mochte. Den Bergkristall, den sie an dem denkwürdigen Tag der Klettertour gefunden hatte, trug sie immer bei sich, weil er sie an Alpay erinnerte. Trotz des Schreckens, den er ihr eingejagt hatte, waren es gute Erinnerungen, von denen Christiana nur wenige besaß und die deshalb für sie umso kostbarer waren.
So kam es, dass sie den Bergkristall auch an dem Tag bei sich trug, als sie das Pflegeheim nach einer verlängerten Nachtschicht am späten Vormittag verließ. Draußen war es kalt und regnerisch und Christiana seufzte. November war wirklich der trostloseste Monat des ganzen Jahres und sie konnte es kaum erwarten, dass die weihnachtliche Beleuchtung und die geschmückten Schaufenster im Dezember die Trostlosigkeit vertrieben. Weil der Gedanke, in ihre leere Wohnung zurückzukehren, heute alles andere als verlockend war, beschloss sie, mit der Straßenbahn in die Innenstadt zu fahren und in den Buchgeschäften zu stöbern, um sich ein oder vielleicht zwei Bücher zu kaufen. Bücher waren die größte Freude in ihrem Leben und machten sie immer glücklich, egal wie trostlos das Wetter war.
Als sie in der Stadtmitte aus der Straßenbahn ausstieg, war sie deshalb voller Vorfreude.
Bis sie die Stimme hörte, die nach ihr rief.
"Christiana, Christiana, bleib stehen!"
Nathanael! Ein eisiger Schreck durchfuhr sie und sie war einen Augenblick lang wie erstarrt.
"He Jungs, das ist Christiana, die Ausreißerin, die schnappen wir uns!" hörte sie ihn rufen.
"Es hat keinen Zweck, dass du wegläufst, wir kriegen dich doch!" rief eine andere Stimme, gefolgt von einem hämischen Lachen. Jeremia! Dann konnte Gideon nicht weit sein. Das schlimmste Dreiergespann der Welt. Schlagartig erwachte Christiana aus ihrer Starre und sprintete los, ohne sich nach den Männern umzusehen. Sie durften sie nicht erwischen! Die Angst setzte ungeahnte Kräfte in Christiana frei, die sich flink wie ein Wiesel den Weg durch die Menschenmassen bahnte und panisch überlegte, wo sie sich vor dem Dreiergespann verstecken konnte. Wo war sie sicher? Wo würden die Männer sie nicht finden? Hinter sich hörte sie lautes Geschrei, als die drei anscheinend Leute anrempelten oder umrannten, und Christiana nutzte den Augenblick der Verwirrung, um in eine Nebenstraße abzubiegen. Und was jetzt? Hektisch blickte sie sich um, während sie um ihr Leben rannte. Ohne nachzudenken zog sie den Kristall aus der Tasche und rannte weiter, den Kristall fest umklammert. Bitte, bitte, bitte bat sie, erfüllt von einer Verzweiflung, die ihr das Herz zusammenpresste.
Da sah sie ein Schild an einem Gebäude etwas weiter vorne auf der Straße, auf dem Kinder-Oase stand. Instinktiv traf sie eine Entscheidung, rannte zu der Tür und stürmte in das Gebäude, wo sie mit einem Mann zusammenstieß. Christiana traute ihren Augen nicht, als sie sah, dass es sich um Alpay handelte.
"Bitte, bitte, versteck mich, sie dürfen mich nicht finden!" flehte sie ihn an und klammerte sich an seinen Arm.
"Hinter die Theke, los. Leg dich auf den Boden und kein Laut, egal was passiert, hörst du!" befahl Alpay ihr und schob sie zur kleinen Theke im Eingangsbereich. Christiana flitzte zur Theke, ließ sich zu Boden fallen, rollte sich zusammen und hielt die Hände vor den Mund, damit ihr kein Laut entwischen konnte. Keine Sekunde zu früh, denn kaum hatte sie sich in ihrem Versteck verschanzt, hörte sie, wie sich die Tür öffnete. Mit klopfendem Herzen lauschte sie. Ihr Herz schlug so laut, dass sie Angst hatte, dass ihr Herzschlag sie verraten würde.
"Kann ich euch helfen?" fragte Alpay ruhig, aber mit einer verhaltenen Drohung in der Stimme, die Christiana erschaudern ließ. Sie konnte sich in etwa vorstellen, welche Wirkung Alpay mit seiner muskulösen, tätowierten Statur und den pechschwarzen Augen auf das Dreiergespann haben musste. Aber Nathanael, Jeremia und Gideon waren absoluten Gehorsam gewohnt und anscheinend nicht bereit, sich so schnell abwimmeln zu lassen.
"Wir suchen unsere Schwester. Wir haben gesehen, wie sie gerade dieses Gebäude betreten hat", antwortete Nathanael, der wie immer der Wortführer des Dreiergespanns war, und seine Stimme war kalt vor Wut.
"So, habt ihr das? Wie alt ist eure Schwester denn?" fragte Alpay mit gefährlich ruhiger Stimme.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht, du Freak."
Jeremias Stimme wurde lauter und zeigte, dass er wieder einmal kurz vor einem seiner gefürchteten Wutanfälle stand.
"Nun", erklärte Alpay, der immer noch gefährlich ruhig war, "das hier ist ein Zufluchtsort für Kinder. Die einzigen Personen, die an mir vorbeikommen, sind deshalb Kinder. Wenn eure Schwester also ein Kind ist, dann ist eure Suche hier beendet, denn wir tun alles, um die Kinder hier zu beschützen. Und wenn eure Schwester kein Kind ist, dann hat sie dieses Gebäude hier nie betreten, denn sie wäre niemals an mir vorbeigekommen."
"Lass mich vorbei, du Freak, das will ich mit eigenen Augen sehen!" schrie Jeremia und dann konnte Christiana hören, dass es ein Gerangel gab. Mit einem dumpfen Laut schlugen ein oder mehrere Körper auf dem Boden auf, gefolgt von lauten Schmerzensschreien. Christiana presste die Hände auf die Ohren, schloss die Augen und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Sie wollte nicht zurück, sie wollte nicht zurück! Als sie spürte, dass jemand nach ihr griff, fing sie deshalb an, panisch um sich zu treten und zu schlagen, zu schreien und zu weinen. Trotz ihrer Gegenwehr wurde sie auf die Beine gezogen und dann umfingen starke Arme sie und hielten sie fest.
"Ich bin es, Alpay. Beruhige dich, Christiana, beruhige dich, sie sind weg" versicherte Alpay ihr wieder und immer wieder, bis das Gesagte schließlich ihre Panik durchdrang und sie aufhörte zu schreien und sich gegen die Umarmung zu wehren. Stattdessen lehnte sie ihren Kopf an seine breite Brust und weinte still vor sich hin, während sie seinem Herzschlag lauschte.
Alpay streichelte ihr wieder die Wange, während er geduldig darauf wartete, dass sie sich wieder fasste. Sie konnte sehen, dass die Knöchel an seinen Händen blutig geschlagen waren.
"Du bist verletzt!"
Erschrocken griff Christiana nach seiner Hand.
"Das ist nichts", beruhigte er sie und zog sie wieder in seine Arme.
"Was ist mit dem Dreiergespann passiert?" fragte Christiana leise, während sie die Nähe, den Schutz und die Geborgenheit der Umarmung in sich aufsog wie ein Schwamm. Sie hatte nicht gewusst, dass sich eine Umarmung so anfühlen konnte. Die einzigen Umarmungen, die sie kannte, waren die flüchtigen, schnellen Umarmungen ihrer Mutter, denen jede Herzenswärme gefehlt hatte.
"Dreiergespann? So nennst du sie?" Alpay lachte und Christiana liebte sein Lachen sofort. Es war frei von Häme, frei von Bosheit, frei von Gehässigkeit und stattdessen voller Humor, Freude und Zuneigung.
"Ich habe ihnen nur eine kleine Lektion erteilt, sie werden es überleben aber hoffentlich nicht so schnell vergessen. Sind sie wirklich deine Brüder?"
"Nein, ich habe keine leiblichen Geschwister. Es sind meine Glaubensbrüder. Oder waren es zumindest."
"Ich verstehe", sagte Alpay und Christiana hatte das Gefühl, dass er tatsächlich verstand, was das bedeutete.
Nachdem sie sich noch eine Weile schweigend umarmt hatten, umfasste Alpay ihr Gesicht mit beiden Händen und sah ihr in die Augen.
"Geht es dir wieder besser?"
"Ja, danke."
"Gut. Möchtest du vielleicht bei der Essensausgabe helfen? Die ersten Kinder werden gleich aus der Schule kommen."
"Ja, das würde ich gerne", erwiderte Christiana.
"Gut", sagte Alpay wieder und musterte sie noch ein paar Augenblicke. Dann drückte er ihr einen sanften Kuss auf die Lippen und ließ sie los.
"Geh einfach nach hinten durch und sag den Frauen, dass ich dich geschickt habe.
"Ok", stimmte Christiana mit schwacher Stimme zu und dann drehte sie sich um und ging durch die hintere Tür im Eingangsbereich, die in einen großen, hellen Raum führte, in dem viele Tische und Stühle in unterschiedlichen Größen, Formen und Farben standen. Im hinteren Bereich gab es eine Theke für die Essensausgabe, dahinter befand sich eine Doppeltür, die jetzt geöffnet war und den Blick in eine große Küche freigab. Aus der Küche klang das typische Geklapper von Töpfen und Geschirr und Christiana konnte mehrere Stimmen hören. Ein wenig zögernd ging sie durch den Raum zur Küche, vorbei an einigen Kindern, die bereits an den Tischen saßen und anscheinend auf das Essen warteten. Gerade kamen mehrere Frauen aus der Küche und fingen an, die Theke mit Essen zu befüllen. Eine der Frauen sah Christiana kommen und lächelte sie freundlich an.
"Hallo, ich bin Anna", stellte sie sich vor.
"Ich bin Christiana. Alpay schickt mich. Kann ich helfen?"
"Gerne, wir können jede Hilfe gebrauchen. Komm, ich zeige dir, was du tun kannst."
Kurze Zeit später stand Christiana hinter der Theke und verteilte Essen auf Teller, die sie den Kindern reichte, die sich in einer langen Schlange vor der Essensausgabe reihten. Viele Kinder waren im Grundschulalter, aber viele auch älter und einige kleiner, sogar ein paar ganz kleine Kinder waren da, die von ihren älteren Geschwistern auf dem Arm getragen wurden. Christianas Herz zog sich zusammen, als sie in die kleinen Gesichter blickte. Alle diese Kinder kamen hierher in die Kinder-Oase, weil sie sonst nichts zu essen bekamen, hatte ihr Anna erzählt. Jetzt, zum Monatsende, waren es besonders viele und Christiana war schockiert und entsetzt über den Grad der Vernachlässigung und Verwahrlosung, die viele der Kinder erkennen ließen. Ganz plötzlich kamen ihr ihre eigenen Probleme schäbig und klein vor, sie waren nichts im Vergleich zu dem, was diese Kinder durchmachten. Und es waren so viele! Wie war das möglich?
Christiana begrüßte jedes einzelne Kind freundlich und stellte sich vor. Manche Kinder nannten ihren Namen, andere blieben stumm, den Blick fest auf den Teller mit dem Essen gerichtet. Zum Glück gab es reichlich Essen und vor allem gutes Essen, das von den freiwilligen Helfern in der Küche mit großem Einsatz und viel Liebe zubereitet wurde. Ein Blick in die Augen dieser Kinder genügte Christiana um zu verstehen, warum sich die Helfer so sehr bemühten.
Alpay hatte mittlerweile auch den Raum betreten und Christiana beobachtete ihn dabei, wie er mit jedem Kind sprach. Manche der Kinder umarmten ihn, andere gaben ihm die Faust oder klatschten ihn ab, wieder andere berührten ihn nicht, aber alle Kinder strahlten ihn ausnahmslos an und Christiana konnte sehen, dass Alpay ihr Held war.
Anna, die neben ihr in der Essensausgabe stand, bemerkte ihren Blick.
"Alpay ist ein Engel", sagte sie und lächelte, "er ist der Schutzengel all dieser Kinder und er nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Wir lieben ihn alle."
Ein Engel.
Ein Schutzengel.
Und sie hatte gedacht, er wäre der Teufel!
Nachdem alle Kinder gegessen hatten, half Christiana dabei, das Geschirr zu spülen und die Küche aufzuräumen. Hausarbeit stellte für Christiana kein Problem dar, denn das hatte sie in ihrer Glaubensgemeinschaft von klein auf gelernt, und bereits nach kurzer Zeit war sie ganz selbstverständlich Teil der Gruppe der freiwilligen Helfer geworden. Kaum blitzte und blinkte die Küche, machten sich die Helfer daran, Brot und Brötchen aufzuschneiden und reichlich zu belegen.
"Das ist für die Vespertüten, die wir den Kindern mitgeben. Viele Kinder bekommen ja kein Abendessen zu Hause und die Oase schließt um sechs. Die meisten Kinder würden bestimmt lieber auch über Nacht hier bleiben, aber das geht nicht, sie müssen zurück nach Hause, wie auch immer ihr Zuhause aussieht. Wenn du noch Zeit hast, kannst du beim Packen der Tüten helfen."
Als alle Vespertüten gepackt waren, war es schon fast vier und so gerne Christiana auch geblieben wäre, sie musste ein paar Stunden schlafen, bevor ihre nächste Nachtschicht begann. Sie suchte nach Alpay, der mit ein paar Kindern an einem Tisch saß und ihnen die Mathematikaufgaben in einer Sprache erklärte, die Christiana nicht verstand. Als Christiana an den Tisch trat, blickte er auf.
"Christiana! Du bist ja noch da! Danke für deine Hilfe."
"Nein, danke für deine Hilfe, Alpay."
Sie zögerte kurz, dann gab sie sich einen Ruck.
"Darf ich morgen wiederkommen und helfen?"
"Selbstverständlich, wir können jede helfende Hand gebrauchen", versicherte Alpay ihr und lächelte sie an.
"Dann bis morgen", verabschiedete sich Christiana und lächelte zurück.
"Bis morgen, Christiana. Ich freu mich, dass wir uns wiedergetroffen haben."
"Ich mich auch."

So kam es, dass die Kinder-Oase zum neuen Lebensmittelpunkt von Christiana wurde, in dem sie jede freie Minute ihrer Zeit verbrachte. Ein Nachmittag mit den Kindern war ausreichend gewesen, um Christiana ein Bild von der Vernachlässigung, Verwahrlosung und auch Gewalt zu vermitteln, denen diese kleinen Menschenwesen ungeschützt ausgesetzt waren, und ab diesem Augenblick war sie von dem Wunsch und dem Willen beseelt, den Kindern zu helfen. Das war alles andere als einfach, die Kinder-Oase war auf Spenden angewiesen und oft reichten das Geld und die Mittel nicht, aber irgendwie schafften sie es trotzdem mit vereinten Kräften, jeden Tag für die Kinder da zu sein und sie zu versorgen, so gut es eben ging. Da Christiana sehr gut im Hauswirtschaften war, übernahm sie immer mehr organisatorische Aufgaben, um alle die Dinge zu beschaffen, die die Kinder brauchten, und das beschränkte sich nicht nur auf das Essen. Selbst so grundlegende Dinge wie Kleidung und Schuhe fehlten den Kindern oft, ganz zu schweigen von Schulsachen.
Es war Christiana unbegreiflich, wie Eltern ihren Kindern so etwas antun konnten, und sie war erschüttert, wie viele schlimme und schlechte Menschen es auf der Welt gab. Aber auf der anderen Seite wärmte es ihr Herz, wenn sie die große Hilfsbereitschaft der freiwilligen Helfer und der Unterstützer der Kinder-Oase sah.
Abends saß sie oft noch stundenlang mit Alpay zusammen und sie gingen zusammen die Buchhaltung durch und besprachen, wie sie die kommenden Tage organisieren wollten, was sie brauchten, was fehlte und wie alles Erforderliche beschafft werden konnte. Christiana liebte diese Stunden, in denen sie Alpay alleine für sich hatte. Es war schon seltsam, dass ausgerechnet dieser furchterregende Mann der erste Mann in ihrem Leben war, der ihr keine Angst machte. Und nicht nur das, sie dachte oft an seine Umarmung und den sanften Kuss, den er ihr gegeben hatte, und in ihr begann eine stille Sehnsucht nach Alpay zu wachsen. Sie begann sich mehr von ihm zu wünschen, mehr Nähe, mehr Wärme, mehr Zuneigung, aber sie wusste nicht, wie sie ihm das zeigen sollte.
So viele Dinge im Umgang mit anderen Menschen hatte sie nie gelernt, denn in ihrer Glaubensgemeinschaft war alles streng geregelt gewesen. Alle lebten nach den von der Bibel und von Gott vorgegebenen Regeln und wenn man gottesfürchtig und gehorsam war, konnte man nach dem Tod auf das Paradies hoffen. Und so streng diese Regeln auch waren, sie hatten eine feste Struktur vorgegeben, die den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft ihren Lebensweg genau vorschrieb, sodass sie keine eigenen Entscheidungen treffen mussten. Jetzt, wo Christiana Abstand gewonnen hatte, verstand sie, dass diese strikten Vorschriften den Menschen ein Gefühl der Sicherheit vermittelten, weil sie sich nie selbst fragen mussten, was richtig und was falsch war. Das war natürlich eine falsche Sicherheit, aber anscheinend waren viele Menschen so haltlos, so unsicher, dass sie ein von Vorschriften und Geboten bestimmtes, unfreies Leben der Freiheit vorzogen.
Christiana hatte am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, auf einmal selbst für das eigene Leben verantwortlich zu sein. Die Befreiung von all diesen Regeln und Vorschriften und die damit verbundene, lang ersehnte Freiheit waren zu Anfang überraschend schwer für Christiana gewesen.
Ihr ganzes Leben lang war alles genau vorgeschrieben gewesen, was sie tun durfte und was verboten war, wie sie sich zu benehmen und zu kleiden hatte, welches Verhalten von ihr erwartet wurde, selbst ihre Zukunft war schon bis ins kleinste Details durchgeplant mit Ehe, Kindern, Beten und Gottesfürchtigkeit, und als alle diese Vorgaben auf einmal nicht mehr da waren, war sie in ein großes Loch gefallen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie erkannt hatte, dass sie keine Vorschriften brauchte, sondern Werte, und dass sie diese Werte in ihrem Herzen trug. Achtung, Respekt, Freundlichkeit, Güte, Geduld und Liebe bildeten die Grundstruktur, auf der ihr neues Leben aufbaute, und seit sie in der Kinder-Oase arbeitete, fühlte sie sich erfüllt. Und glücklich.
Aber während ihr der Umgang mit den Kindern und mit den anderen Helfern und Mitarbeitern überhaupt nicht schwer fiel und sie ab dem ersten Tag dieses Zugehörigkeitsgefühl gehabt hatte, war die Sache mit Alpay eine echte Herausforderung für sie. Sollte sie ihm zeigen, dass er ihr etwas bedeutete? Aber sie wusste ja selbst gar nicht so genau, was sie für Alpay empfand. Oder sollte sie mit ihm darüber reden? Aber was sollte sie sagen?
Christiana war hin- und hergerissen und fühlte eine zunehmende Hilflosigkeit, die die Situation auch nicht besser machte. Bis schließlich eines Abends ihr Bedürfnis nach Alpays Nähe alle ihre Ängste und Zweifel überwog und sie vorsichtig nach seiner Hand griff, als sie nebeneinander am Tisch im Büro saßen und ein paar Listen durchgingen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und ihr Mut verließ sie praktisch sofort wieder, aber Alpay umfasste ihre Hand, verschränkte seine Finger mit ihren und dann zog er sie mit einer schnellen Bewegung auf seinen Schoß und in eine Umarmung, die so innig und liebevoll war, dass Christiana mit einem Seufzer in die Umarmung floss und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Ihr wurde klar, dass er nur auf ein Zeichen von ihr gewartet hatte, dass er ihr die Zeit gegeben hatte, sich darüber klar zu werden, was sie wollte. Wie immer berührten seine Geduld und sein Einfühlungsvermögen sie tief und sie schmiegte sich noch enger in seine Umarmung.
"Was hat dich dazu gebracht, deine Glaubensgemeinschaft zu verlassen?" fragte Alpay, der anscheinend vollkommen zufrieden damit war, sie in seinen Armen zu halten und ihr hin und wieder sanft die Wange zu streicheln.
Christiana seufzte.
"Sagen wir es einmal so, ich war von Anfang an ein unfolgsames Kind und mir ist es schwer gefallen, mich all diesen Regeln unterzuordnen. Es war ja nicht so, dass ich eingesperrt war, wir haben ja alle ein ganz normales Leben mitten in der Gesellschaft gelebt, meine Eltern haben gearbeitet und ich bin auf eine staatliche Schule gegangen. Ich habe also immer gesehen, dass mein Leben irgendwie merkwürdig war."
Sie schwieg und dachte an ihre Kindheit und Jugend zurück.
"Ich glaube, ich habe einfach immer alles hinterfragt und nichts für selbstverständlich genommen. In meinen Gedanken war eigentlich immer nur ein einziges großes warum?"
Sie seufzte wieder.
"Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, was für ein Druck entsteht, wenn du einen bestimmten Glauben Tag täglich vorgelebt bekommst, wenn dir Tag täglich erzählt wird, was richtig und was falsch ist, und wenn du Tag täglich mit der Angst vor der furchtbaren Bestrafung lebst. Mit der Angst vor dem Zorn Gottes, der Hölle und dem Teufel."
"Doch, das weiß ich. Bei mir war es ein Lebenskonzept, kein Glaubenskonzept, und die Bestrafungen waren andere, aber im Grunde genommen war es das Gleiche."
"Einen Gott, der von der Gottesfurcht lebt, von der Angst vor der Bestrafung, einen Gott, der die Gläubigen mit furchtbaren Drohungen zu absolutem Gehorsam zwingt, der kann nicht mein Gott sein. So einen Gott will ich nicht in meinem Leben."
Christiana begann zu zittern, denn dieses Thema ging ihr nach wie vor sehr nahe.
Alpay umfasste ihren Nacken und küsste sie sanft auf den Mund und sofort beruhigte sie sich und lehnte ihren Kopf wieder an seine Schulter.
"Den Ausschlag gegeben hat Ostern."
Sie fragte sich bis heute, wie sie damals den Mut dazu aufgebracht hatte, ihrer Familie und der Glaubensgemeinschaft den Rücken zu kehren.
"Wieso gerade Ostern?" fragte Alpay.
"Weil an Ostern in der Messe, die die ganze Nacht dauert, nicht nur alle Kinder getauft werden, die im vergangenen Jahr geboren worden sind, sondern auch die Paare zusammengeführt werden."
"So eine Art kombinierte Heirat?"
"Ja, so kann man das nennen. Alle Jugendlichen, die ihre Volljährigkeit erreicht haben, verloben sich mit den Partnern, die die Gemeinschaft für sie ausgewählt hat."
Christiana erschauderte, als sie an den Sonntag vor Ostern zurückdachte, an dem der Pfarrer die Paarungen bekannt gegeben hatte und ihr der kalte Angstschweiß ausgebrochen war, im Gegensatz zu den anderen Jugendlichen, die ihre auserwählten Partner und Partnerinnen mit glänzenden Augen und freudigem Gesichtsausdruck an die Hand nahmen.
"Lass mich raten, du hast Jeremia bekommen."
"Ja. Und jetzt bin ich dafür dankbar, denn wenn es einer von den netten Jungs gewesen wäre, hätte ich vermutlich nie den Mut für den Absprung gefunden. Aber Jeremia, das ging gar nicht. In der Glaubensgemeinschaft ist zwar körperliche Gewalt in jeder Form absolut verpönt, aber alle leben strikt nach dem Gebot, dass die Frau dem Manne untertan ist wie der Mann Gott untertan ist. Der psychische Druck ist ungeheuer groß und Jeremia hätte mit Sicherheit Mittel und Wege gefunden, mir das Leben zur Hölle zu machen."
Christiana erschauderte erneut.
"Vermutlich war der Pfarrer der Ansicht, dass ich eine starke Hand brauche, weil ich schon oft durch meinen Ungehorsam aufgefallen war."
"Ich bin froh, dass Jeremia so ein Arschloch ist", sagte Alpay zu ihrer Überraschung und dann küsste er sie wieder, nur diesmal irgendwie anders, sodass Hitze in Wellen durch Christianas Körper flutete und ihr Herz heftig zu schlagen anfing.
"Oh", murmelte sie atemlos, als Alpay den Kuss beendete.
"Hat es dir gefallen?" fragte Alpay. Christiana nickte, brachte aber keinen Ton heraus, weil ihr auf einmal die Luft zum Atmen fehlte.
"Möchtest du wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Mann eine Frau liebt? Wenn er sie wirklich liebt, mit dem Herzen und dem Körper?" fragte er dann und streichelte ihr wieder die Wange.
Christianas Herz schlug jetzt so heftig, dass es ein paar Mal ins Stolpern geriet.
"Du liebst mich?" flüsterte sie und starrte ihn verwundert an.
"Oh ja, das tue ich. Keine Frau hat jemals so mein Herz berührt wie du und ich weiß, dass das etwas Einzigartiges ist, das sich in meinem Leben nicht wiederholen wird."
Christiana starrte ihn nur weiter sprachlos an.
Alpay liebte sie?
"Aber ich bin unbedeutend. Unsichtbar."
"Oh nein, das bist du nicht, nicht für mich."
Alpay umfasste ihr Kinn mit einer Hand und blickte ihr tief in die Augen. Wie konnten schwarze Augen so viel Liebe, so viel Wärme, so viel Leidenschaft zum Ausdruck bringen?
"Du strahlst und scheinst auf eine Weise wie keine andere Frau. Ich will nur dich, Christiana, wenn du mich nicht willst, wird es keine Frau mehr für mich geben."
"Für mich wird es auch keinen anderen geben als dich, Alpay. Niemals. Bis ans Ende meiner Tage wirst du der einzige für mich sein", erwiderte Christiana und dann schlang sie ihre Arme um seine Hals und küsste ihn.
Nach dem Kuss blickten sie sich beide atemlos an und Christiana spürte, dass ihre Wangen heiß waren, heiß vor Verlangen, vor Sehnsucht und vor Lust.
"Lass uns nach oben gehen, zu mir", schlug Alpay vor und küsste ihren Hals.
"Ja, lass uns nach oben gehen", stimmte Christiana mit klopfendem Herzen zu, "aber ich weiß nicht, wie das geht. Also das mit Mann und Frau. Also, ich weiß natürlich schon, wie das geht, aber ich hab es noch nie getan."
Sie verhaspelte sich total und verstummte verlegen.
Alpay stand auf, zog sie noch einmal in seine Arme und ließ seine Hände sanft über ihren Rücken gleiten.
"Du wirst gleich herausfinden, wie es geht, und ich verspreche dir, es wird dir gefallen", flüsterte er ihr mit heiserer Stimme ins Ohr und Christiana war froh, dass er sie mit seinen starken Armen umfangen hielt, denn ihre Beine gaben nach und wenn er sie nicht gehalten hätte, wäre sie zu Boden gesunken.
Alpay nahm ihre Hand und führte sie die Treppe hinauf in das obere Stockwerk, wo er eine kleine Wohnung hatte. Kaum hatte er die Wohnungstür hinter sich geschlossen, zog er Christiana wieder in seine Arme und küsste sie mit einer Leidenschaft, die unglaubliche Dinge mit ihr anstellte. Ganz von selbst zogen ihre Hände sein T-Shirt aus der Hose und dann ließ sie ihre Hände über seine nackte Haut gleiten. Wie wundervoll er sich anfühlte!
"Ich will deine Tattoos sehe", flüsterte sie und fühlte sich ganz plötzlich mutig und frei.
"Dann komm", forderte Alpay sie auf und führte sie in sein Schlafzimmer, wo er sich langsam auszog. Christiana konnte ihren Blick nicht abwenden von diesem furchterregenden Mann und ihre Zweifel und Verlegenheit waren wie weggewischt und wurden von einer Verwegenheit ersetzt, die ihr selbst vollkommen neu war. Langsam umrundete sie Alpay, der so viel größer und so viel stärker war als sie, und ließ dabei ihre Fingerspitzen über jedes einzelne seiner Tattoos gleiten. Sie konnte sehen, dass ihm gefiel, was sie tat, dass es ihm sogar außerordentlich gut gefiel, und umrundete ihn erneut, nur dass sie diesmal die Tattoos sanft küsste. Alpay stöhnte leise, bewegte sich aber nicht. Schließlich blieb Christiana vor ihm stehen, trat ganz dicht an ihn heran und ließ ihre Hand über seinen Bauch nach unten wandern. Sie konnte spüren, wie seine harten Bauchmuskeln unter ihren Fingerspitzen zuckten.
"Ich bin bereit", sagte sie, blickte ihm direkt in die Augen und umfing ihn mit festem Griff.
Alpay erwachte aus seiner Bewegungslosigkeit und warf sie mit einer schnellen Bewegung auf sein Bett und dann gab es nur noch Haut auf Haut, heiße Küsse und Berührungen, bis sie mit einer Wildheit und einem Verlangen zusammenkamen, das Christiana komplett erfüllte.
Hinterher lagen sie sich schwer atmend in den Armen und Christiana ließ träge ihre Finger über Alpays muskulösen Körper wandern. Obwohl sie selbst so klein und zierlich war, hatte sie sich in keinem Augenblick von ihm bedrängt oder bedroht gefühlt, im Gegenteil, sie mochte seine Stärke, sie liebte seine Stärke, sie bewunderte seine Stärke.
Sie schmiegte sich eng an ihn und schlang ein Bein um seine Taille.
"Und, hat es dir gefallen?", murmelte Alpay in ihre Haare und streichelte ihr den Rücken.
Christiana lachte.
"Oh ja. Wird es immer so bleiben mit uns, Alpay?"
"Ja, das wird es. Wir werden uns mit Sicherheit hin und wieder streiten und nicht immer einer Meinung sein, aber das hier, das ist der Augenblick, in dem unsere Seelen zusammenkommen, und das wird sich nie ändern."
"Danke, dass es dich gibt, Alpay", murmelte Christiana schläfrig vom vielen Liebemachen.
"Danke, dass du in mein Leben gekommen bist, Christiana", erwiderte Alpay und hielt sie sicher umfangen, bis sie einschlief.

Ein lauter und schriller Klingelton schreckte Christiana mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Sie zuckte zusammen und brauchte einen Augenblick, bis ihr wieder einfiel, wo sie war.
Alpay sprang aus dem Bett und zog sich in Lichtgeschwindigkeit an.
"Was ist?" fragte Christiana und spürte eine zunehmende Beklommenheit.
"Die Notglocke. Jemand hat die Notglocke geläutet", informierte sie Alpay, zog sich das T-Shirt über den Kopf und stürmte aus dem Zimmer. Christiana sprang mit klopfendem Herzen ebenfalls aus dem Bett und rannte nur wenig später ebenfalls die Treppe hinunter und zur Eingangstür der Kinder-Oase.
Im Eingang standen Alpay und einer der älteren Jungen, die täglich in die Kinder-Oase kamen und der ein kleines Mädchen auf dem Arm trug, das blutüberströmt war.
"Wir müssen sie sofort ins Krankenhaus bringen, Yasha", hörte Christiana Alpay mit ruhiger Stimme sagen, der eine Hand auf die Schulter des Jungen gelegt hatte. Der Junge sah Alpay mit panischem Blick an und fing dann an zu weinen.
"Ich wusste nicht, was ich tun sollte", schluchzte er wieder und immer wieder.
"Du hast genau das Richtige getan, Yasha, wir beschützen dich und deine kleine Schwester."
"Fahren wir oder soll ich den Notarzt rufen?" fragte Christiana und warf einen Blick auf das kleine Mädchen, das leblos in Yashas Armen lag und aussah, als ob es von einem Lastwagen überfahren worden wäre.
"Es geht schneller, wenn wir fahren, das Krankenhaus ist nicht weit weg. Ich hole das Auto, ihr wartet hier."
Mit diesen Worten verschwand er und Christiana trat zu Yasha, weil sie Angst hatte, der Junge würde zusammenbrechen und seine Schwester fallenlassen. Aber er hielt sich mit einer Verbissenheit und Wut auf den Beinen, die Christiana tief berührte.
"Wird Mara sterben?" presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sein tiefer Schmerz war so offensichtlich, dass Christiana die Tränen in die Augen traten. Vorsichtig legte Christiana die Finger an den Hals des kleinen Mädchens und fühlte zu ihrer unendlichen Erleichterung einen schwachen Puls.
"Noch lebt sie, Yasha, und das hat sie nur dir zu verdanken. Ich verspreche dir, wir werden alles Menschenmögliche tun, um ihr Leben zu retten."
Yasha nickte unter Tränen und dann kam auch schon Alpay mit dem Kleinbus der Kinder-Oase vorgefahren. Vorsichtig bettete Yasha seine Schwester auf die Sitzbank und Christiana kniete sich davor auf den Boden, um sicherzustellen, dass das Mädchen nicht vom Sitz rutschen konnte.
Während Alpay den Transporter zügig aber sicher durch die Straßen lenkte, die zu so später Stunde fast geisterhaft leer und verlassen waren, rief er das Krankenhaus an und kündigte ihr Kommen an.
"Ja, multiple schwere Verletzungen. Nein, weiß ich nicht. Ja, der Bruder. In Ordnung, wir sind in drei Minuten da."
Und dann fuhren sie auch schon auf den Parkplatz vor der Notaufnahme und kaum hatten sie den Transporter abgestellt, kamen schon mehrere Personen mit einer Rettungsbahre aus dem Krankenhaus. Es gab kurz einen Moment der Aufregung, weil Yasha seine Schwester nicht loslassen wollte, aber Alpay legte ihm wieder die Hand auf die Schulter und sah in an.
"Yasha, nur die Ärzte können deine Schwester jetzt noch retten, du musst sie loslassen. Jede Sekunde ist kostbar. Wir gehen mit ins Krankenhaus und ich verspreche dir, wir bleiben dort, bis wir wissen, was mit Mara ist."
Yasha nickte und ließ endlich seine Schwester los, die umgehend von den Ärzten auf die Bahre gelegt und in die Notaufnahme geschoben wurde.
"Geht ihr beide schon mal rein, ich parke den Transporter und komme dann nach", sagte Christiana und hielt Alpay die Hand hin.
"In Ordnung", stimmte Alpay zu, gab ihr den Autoschlüssel und führte Yasha dann ins Krankenhaus, den Arm fest um seine Schulter gelegt.

Später, als Yasha vor Erschöpfung auf der Bank im Warteraum vor dem OP eingeschlafen war, in den Mara nach einigen Untersuchungen in der Notaufnahme umgehend gebracht worden war, drückte Christiana dem schlafenden Jungen einen sanften Kuss auf die Wange und strich ihm die langen Haare aus dem Gesicht.
"Was glaubst du ist passiert?" fragte sie Alpay, da alle Versuche, Yasha zum Reden zu bringen, am hartnäckigen Schweigen des Jungen gescheitert waren.
"Häusliche Gewalt", erwiderte Alpay mit wuterfüllter Stimme, "immer und immer wieder ist es häusliche Gewalt und wir können nichts dagegen tun, erst muss etwas richtig Schlimmes passieren, vorher greift das Jugendamt nicht ein. Inobhutnahme wegen Kindeswohlgefährdung nennt man das, als ob es den Kindern nicht schon vorher schlecht ergangen wäre. Der Vater ist Alkoholiker und seine Gewaltbereitschaft ist bekannt."
"Das hat ihr ihr eigener Vater angetan? Wollte er sie totschlagen?" Christianas Stimme brach und sie holte ein paar Mal tief Luft, denn sie wollte die Fassung nicht verlieren.
"So wie Mara aussieht, würde ich ehr sagen, er hat sie aus dem Fenster oder vom Balkon geworfen."
Christiana hatte in den vergangen Wochen in der Kinder-Oase viel gesehen, aber diese Aussage schockierte sie zutiefst.
"Wir werden Mara und Yasha helfen, ich lasse nicht zu, dass sie zurück zu diesem schrecklichen Mann gehen!"
Mit blitzenden Augen starrte Christiana Alpay herausfordernd an, aber in seinem Gesicht konnte sie die gleiche Wut und Entschlossenheit sehen, die auch sie selbst erfüllte.
"Vielleicht gibt es da ja eine Möglichkeit. Das Krankenhaus hat das Jugendamt schon informiert, wie das in diesen Fällen vorgeschrieben ist, und gleich kommt jemand. Wenn wir uns als feste Lebenspartner ausgeben, können wir vielleicht als Pflegeeltern für den Notfall einspringen. Zumindest für den Augenblick. Es bleibt dann noch abzuwarten, ob wir auch dauerhaft ihre Pflegeeltern sein können."
"Aber das sind wir doch!" rief Christiana aufgeregt, die einen kleinen Hoffnungsschimmer verspürte.
"Was?" fragte Alpay, der ihr offensichtlich nicht ganz folgen konnte.
"Feste Lebenspartner. Und wenn das Amt einen Beweis dafür braucht, dann heiraten wir ganz einfach!"
"Das ist sie, meine wundervolle, einzigartige Christiana."
Alpay küsste sie liebevoll und umarmte sie dann.
"Das ist mit Sicherheit der seltsamste Heiratsantrag, von dem ich je gehört habe", murmelte er und küsste sie erneut.
"Und? Sagst du ja?" fragte Christiana und sah in atemlos an. Die ganze Idee war verrückt, aber kaum hatte sie sie ausgesprochen, spürte sie, dass es genau das war, was sie wollte, sie wollte Alpays Frau sein und sie wollte die Kinder zu sich holen.
"Was für eine Frage, selbstverständlich will ich dich heiraten, Liebe meines Lebens."

Und so kam es, dass Yasha nach einem langen Gespräch mit der Mitarbeiterin des Jugendamts vorübergehend in die Obhut von Christiana und Alpay gegeben wurde, ebenso wie seine kleine Schwester Mara, die aber noch einen langen Krankenhausaufenthalt vor sich hatte. Als sie aus dem OP kam, gaben die Ärzte zwar vorsichtig Entwarnung, aber das kleine Mädchen hatte so viele Knochenbrüche und innere Verletzungen, dass nicht sicher war, ob sie jemals wieder vollständig genesen würde.
Dass die Frau vom Jugendamt dem Vorschlag von Alpay und Christiana schließlich nach Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten zustimmte, lag zum einen daran, dass sie Alpay und die Kinder-Oase gut kannte und dass Yasha und Mara so in eine vertraute Umgebung kamen, und zum anderen an dem erschreckenden Ausmaß der Misshandlung, die dem Jugendamt einen gewissen Handlungsspielraum gab.
Danach begann eine arbeitsreiche und intensive Zeit, denn so viel musste organisiert werden. Christiana nahm sich ihren Jahresurlaub, um sich in der ersten Übergangszeit voll und ganz um die Kinder kümmern zu können, und besuchte jeden Tag zusammen mit Yasha Mara im Krankenhaus. Die freiwilligen Helfer der Kinder-Oase wechselten sich ab, sodass Mara keinen Augenblick alleine war, aber Yasha brauchte die Nähe zu seiner Schwester und so verbrachten sie viele Stunden mit dem kleinen Mädchen. Langsam ging es Mara besser, nach zwei Wochen holten die Ärzte sie aus dem künstlichen Koma, in das sie versetzt worden war, damit ihr kleiner Körper heilen konnte, und schon bald war sie ansprechbar.
Auch Yasha ging es langsam besser. In den ersten Wochen waren sein Misstrauen und seine Angst groß, dass er wieder zurück nach Haus geschickt würde, aber dann lebte er auf, jeden Tag ein bisschen mehr, und Christiana war stolz auf ihn. Alpay übertrug Yasha viele kleinere Aufgaben, die der Vierzehnjährige sehr ernst nahm und gewissenhaft ausführte. Dieses Gefühl, gebraucht zu werden, half dem Jungen dabei, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden und Christiana war optimistisch, dass seine Wunden heilen würden, auch wenn selbstverständlich Narben zurückbleiben würden.

Christiana und Alpay hatten ganz still und leise geheiratet, auf dem Standesamt und nur in Anwesenheit der beiden Trauzeugen, aber Christiana hätte sich keine schönere Hochzeit vorstellen können. Ihre Trauringe waren schlichte Silberbänder, in die ein kleines, geschliffenes Stück des Bergkristalls eingelassen war, und für Christiana war ihr Ring das schönste Schmuckstück der Welt.
Als Christiana eines Nachmittags am Getränkeautomaten im Krankenhausflur stand, um einen Kaffee für sich und einen Soft-Drink für Yasha zu holen, hörte sie plötzlich Stimmen, die ihr bekannt vorkamen, und als sie sich umdrehte, sah sie einige Mitglieder ihrer früheren Glaubensgemeinschaft, die sich lebhaft unterhielten und sie zunächst gar nicht bemerkten, was sicher auch daran lag, dass Christiana mit ihren kurzen Haare, den Jeans und dem Hoody kaum wiederzuerkennen war.
Christiana beobachtet die kleine Gruppe, zu der Jeremia, seine Eltern und noch ein paar weitere Personen gehörten, und stellte fest, dass sie nichts fühlte, außer einer großen Ruhe.
"Sieh an, Christiana, die Ausreißerin", rief Jeremia aus, der sie schließlich doch bemerkte.
"Christiana, bist du es wirklich?" fragte Jeremias Mutter und starrte sie verblüfft an.
"Ja, Esther, ich bin es. Und was führt euch hier ins Krankenhaus? Hoffentlich nichts Schlimmes."
Es fiel Christiana gar nicht schwer, nett zu sein. Schließlich gab es keinen Grund, unhöflich zu sein.
"Jeremia ist Vater geworden, wir sind auf dem Weg zu unserer kleinen Enkelin", platzte Esther heraus, die diese Neuigkeit anscheinend nicht für sich behalten konnte.
"Das sind aber schöne Neuigkeiten. Herzlichen Glückwunsch, Esther, Jeremia." Mit einem Kopfnicken bezog sie Jeremia mit ein, auch wenn ihr die Frau im Stillen leid tat, die ihr Leben jetzt mit Jeremia teilen musste.
"Ich habe jetzt eine richtige Familie", brüstete sich Jeremia und Christiana fragte sich, wie sie jemals Angst vor so einer armseligen Person hatte haben können.
"Tut mir leid, dass du das nie erleben wirst, denn wer will schon eine wie dich", setzte Jeremia noch gehässig nach, aber Christiana lächelte ihn nur an.
"Da hast du Recht, wer will schon eine wie mich. Ich wünsche dir viel Freude mit deiner neuen Familie."
Als seine Gehässigkeiten im Nirgendwo verpufften, musterte Jeremia sie noch einen Augenblick überrascht, ließ sie dann aber einfach stehen und ging weiter zur Entbindungsstation.
Christiana blickte dem Grüppchen hinterher und fühlte sich auf einmal ganz leicht und frei. Was früher gewesen war, spielte jetzt keine Rolle mehr, sie hatte ihr Glück und ihre Lebensaufgabe gefunden. Mit einem Lächeln ging sie zurück ins Krankenzimmer zu Mara und zu Yasha, den sie umarmte und auf die Wange küsste, was er geduldig über sich ergehen ließ, obwohl er ihr ständig versicherte, er sei viel zu alt für solchen Kinderkram.

Die kommenden Jahre waren nicht immer einfach, aber sie erfüllten Christiana mit einer tiefen Zufriedenheit. Nach langem hin und her und verschiedenen Gerichtsterminen vor dem Familienrichter konnten Alpay und Christiana Yasha und Mara schließlich adoptieren und die kleine Mara erholte sich mit viel Unterstützung und Rehabilitation praktisch vollständig von ihren Verletzungen. Yasha und Mara blieben ihre einzigen eigenen Kinder, aber Alpay und Christiana nahmen im Laufe der Jahre viele Pflegekinder auf, manche blieben nur ein paar Wochen, andere Monate oder sogar Jahre, aber immer versuchten sie, den Kindern so viel Liebe und Geborgenheit mitzugeben, wie sie konnten.
In all dem alltäglichen Chaos war und blieb Alpay der ruhende Pol und der selbsternannte Schutzengel für all die kleinen Seelen, die Hilfe brauchten. Und er hielt sein Versprechen, die Innigkeit und Liebe zwischen ihnen wurde nicht weniger, sondern mit jedem Jahr, das verging, größer.

 

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Ich liebe es, neue Welten zu erschaffen, und hoffe, ihr hab genau so viel Freude daran, meine Bücher zu lesen, wie es mir Freude bereitet hat, sie zu schreiben.

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